Algiers: Live in Leipzig

Algiers in Leipzig 2018
Algiers

27. Februar 2018

LEIPZIG, UT CONNEWITZ

Im Gegensatz zur Aussicht auf zweistellige Minusgrade erschien das Verweilen in den eigenen vier Wänden bei wohligen Temperaturen durchaus verlockend. Doch die Möglichkeit, „eine der wirkmächtigsten Live-Bands“ und „eine Genres und Ethnien transzendierende Größe zukünftiger Pop- und Rockmusik“ (Spiegel online) auf der Bühne erleben zu können, ließ die unangenehme Kälte vor der Haustüre zu einem unbedeutenden Faktor werden und den Weg zum Leipziger Club „UT Connewitz“ voller Vorfreude antreten.

Doch ehe „Algiers“ den Anwesenden musikalisch einheizen sollte, eröffnete eine mir bis dato vollkommen unbekannte Band: „Jupiter-C“. Das Duo aus Manchester beschreibt seinen Sound als „zerbrochene Melodien“ und „dissonanten Krach“. Hypnotisch legte sich die zarte, sanfte Stimme von Ashiya Eastwood über verschwommene Gitarrenriffs von David Kane und dunkel gefärbt, synthetische Klänge und Rhythmen. Ein interessanter Auftritt, der sich jedoch – man möge es mir in Anbetracht der folgenden, mehr als mitreißenden Darbietung bitte verzeihen – nicht nachhaltig ins Gedächtnis brennen konnte. Sicherlich werde ich mich aber noch eingehender mit den minimalistischen, kalten Klängen von „Jupiter-C“, deren Debüt-EP vor einem Jahr erschienen ist, beschäftigen.

Was nach einer kurzen Umbaupause folgte, darf ohne Übertreibung als großartig bezeichnet werden.

Der Reflex, Musik in Genres einzuteilen, ist schwer zu unterdrücken. Doch „Algiers“ entziehen sich dieser Einordnung komplett. Keine mir bekannte Schublade trägt ein auch nur annähernd passendes Label. Ferner ist die Suche nach einer vergleichbaren Referenz zum Scheitern verurteilt. Die Namen Marvin Gaye und Donny Hathaway kommen mir ebenso in den Sinn wie beispielsweise Sonic Youth und Public Image Limited. Letztendlich sind aber alle Namen Makulatur. Denn die elektrisierende Melange aus Soul, Gospel, Post Punk, Rock, Hip-Hop und elektronischen Komponenten erscheint einzigartig. Der hör- wie sichtbaren Leidenschaft, Wut, Energie und Spiritualität der ursprünglich aus Atlanta stammenden Band kann man kaum entkommen.

Und dabei scheint es vollkommen ohne Belang zu sein, ob ein Club bis zum Bersten gefüllt oder wie in diesem Fall noch so mancher Gast Platz gefunden hätte. Ebenfalls unwichtig erscheint der Umstand, ob sich die Konzertbesucher vom rhythmischen Bewegungsdrang der Musiker anstecken lassen oder in sich gekehrt voller Faszination den Stücken lauschen. Ob der Schweiß floss oder der eine oder andere anhand der niedrigen Außentemperaturen anfangs immer noch leicht fröstelnd in eine dicke Winterjacken gehüllt vor der Bühne verweilte, war bedeutungslos – mit reichlich Herzblut präsentierten die vier Protagonisten Titel um Titel.

Kirchenchoräle und Samples – beispielsweise der Ausschnitt einer legendären Rede des Aktivisten und Vorsitzenden der Black Panther Bewegung Fred Hampton – erschufen eine Atmosphäre zwischen afroamerikanischem Gottesdienst und anklagendem Protestmarsch. Mal am Piano sitzend, mal überschwänglich tanzend oder am Boden kauernd: Franklin James Fisher sang und schrie seine Wut heraus – kraftvoll und zerbrechlich zugleich.

Die Mischung aus schwarzer und weißer Popkultur war und ist eine Art mahnender wie leidender Soundtrack einer gegenwärtig aus den Fugen geratenen Welt und eine Stimme gegen Rassismus, Polizeigewalt und Despoten. Eine Wohltat in Zeiten, in denen Künstler zunehmend weniger zu sagen haben, von einer rosaroten Scheinwelt singen und sich nicht positionieren, um keine potentiellen Konsumenten zu vergraulen.

Begeistert und voller Neugier beobachtete ich die kreative Klangerzeugung. Neben den obligatorischen Gitarren, Bass und Schlagzeug kamen Pianos, Synthesizer, Tambourine, Maracas und ein elektrisches Becken zum Einsatz. Zwei auf einen Gitarrenkorpus gespannte Spiralen wurden mittels Füßen oder Schlägel zum Klingen gebracht. Daneben wirkten ein Bogen und ein breiter Pinsel, mit denen Lee Tesche über seine Gitarrensaiten strich, fast schon gewöhnlich.

Die etwa 85 Minuten, in denen Franklin James Fisher, Ryan Mahan, Lee Tesche und Matt Tong die Konzertbesucher in ihren Bann zogen, vergingen wie im Flug. Lärmende Gitarren, sphärisch-düstere und hymnenartige Passagen, überraschende Elementen, flammende Worte, aggressive Rhythmen, mehrstimmiger Gospelgesang, safte Pianomelodien – Algiers boten eine brodelnde und zügellose Vorstellung.

Dieser intensive und kurzweilige Auftritt hätte einen bis unters Dach gefüllten Club, bei dem der Schweiß von der Decke tropft, verdient gehabt. Nichtsdestoweniger darf von einem bemerkenswerten Abend gesprochen werden. Die nächste Möglichkeit, diese beispiellose Band erleben zu können, wird sicherlich nicht ungenutzt bleiben. Ungeachtet der Jahreszeit und den vorherrschenden Temperaturen.

Fotos: Marcus Rietzsch

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