Das Elite-Internat

Auf einem Berg am nördlichen Rand des Harzes „thront“ go2know– etwas abgelegen und fast versteckt – der Gebäudekomplex einer ehemaligen „nationalpolitischen Erziehungsanstalt“ (NPEA). Errichtet im Auftrag der Nationalsozialisten mit dem Ziel der Heranziehung des politischen Nachwuchses und der Führungsriege des Deutschen Reichs. Insgesamt wurden an diesen Standort etwa 350 Schüler ausgebildet. Sport und militärische Disziplin standen im Vordergrund. In ganz Deutschland gab es 39 solcher Schulen, doch auf dem Großen Ziegenberg im Harz wurde der einzige Neubau einer solchen Institution, auch „Napola“ (Nationalpolitische Lehranstalt) genannt, errichtet.

Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs verwalteten die sowjetischen Streitkräfte das Areal, ehe es 1949 von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) übernommen, ausgebaut und als Parteischule etabliert wurde. Ironie der Geschichte: der Architekt (vermutlich Baurat Dr. Kurt Ehrlich), welcher einst den Bau im Nationalsozialismus entwarf, soll auch mit den erforderlichen Umbauarbeiten beauftragt worden sein. Die Anlage wurde weiter genutzt als Kaderschule. Wer eine Führungsposition im Land übernehmen wollte – auch wenn diese auf einer niedrigeren Ebene angesiedelt war – musste eine der Parteischulen besuchen und eine zehnmonatige Ausbildung absolvieren. Etwa 16.000 Mitglieder der SED wurden in der ehemaligen Nazischule im sozialistischen Sinne gebildet. Die bis zu 600 Schüler jährlich waren auf dem abgeschotteten Gelände untergebracht. Ihnen standen ein Laden, ein Friseur und Ärzte zur Verfügung. Wer nicht zum Personal gehörte, wurde der Zutritt verwehrt.

Nach der Wiedervereinigung nutzten verschiedene Fachschulen die Räumlichkeiten noch bis ins Jahr 2005. Doch dann gingen die sprichwörtlichen Lichter endgültig aus und die Türen wurden verschlossen. Die Bausubstanz erscheint noch sehr gut. Wie der vorhandene Denkmalschutz die Investorensuche erschwert, ist nicht bekannt.

Das am Eingang zum Gelände platzierte Schild mit dem Hinweis „Betreten verboten“ gilt nicht für die angemeldeten Teilnehmer der von go2know organisierten Tour. Der Wachschutz ist informiert und das große Gittertor öffnet sich bereitwillig.

Das große blockige Hauptgebäude mit einem Turm befindet sich rechter Hand. Mit seinen mächtigen Säulen fordert das Haupteingangsportal unseren Respekt. Die geraden Kanten und Linien demonstrieren sowohl Stärke als auch Eleganz. Marmor, Kalkstein und Beton trotzen bisher erfolgreich der Witterung.

Nachdem wir die Marmorstufen emporgeschritten sind, erahnen wir noch nicht die Weitläufigkeit des Gebäudes. Der Weg führt uns durch ein Foyer, rechts und links breiten sich lange Gänge aus. Vor uns liegt nun der Vorraum zu einem großen Saal. An beiden Seiten führen Treppen in die oberen Stockwerke. Unter den Schuhen knirschen tausende Glasscherben. Wiederholt wurden die Fensterscheiben systematisch eingeworfen. Filigrane Risse zieren die Glastüren wie Spinnennetze. Wand- und Deckenleuchten aus Glas – zerschlagen. Im Saal zieht eine große Bühne unsere Blicke auf sich. An den Seiten flattern lange Vorhänge wie Gespenster im stürmischen Wind – mal weit hinein in den Raum, mal durch die zertrümmerten Scheiben ins Freie. Die Bühne hat auch gelitten. Zugdrähte für Vorhänge – unbrauchbar. Die Stellräder arbeitslos. Seitlich ein eher unscheinbarer Zugang zum Turm, dessen Treppenaufgang kahl und schmucklos erscheint. Die vielen gepolsterten Klappstuhlreihen sind noch vorhanden und laden zum Verweilen ein, um die Atmosphäre wirken zu lassen. Schreibplatten teils nach oben, teils nach unten geklappt. Vorsichtig bahnen wir uns den Weg über Glasscherben und Holzbretter. Blendet man die Zerstörungen aus, ist dieser Schulungssaal überaus beeindruckend. Man wundert sich fast ein wenig, dass hierfür keine Nachnutzung gefunden wurde.

Am hinteren Ende des Saals – über einer Galerie, auf der weitere Reihen mit Klappstühlen angeordnet sind – erkennt man die Öffnungen für die Projektion von Filmen. Im zweiten Geschoss finden wir den Zugang zum Projektionsraum. Die gewaltigen Projektoren stehen ungerührt da. Protzig verharren sie in der Dunkelheit und trotzen der Zeit. Im Vorraum liegen einige Meter Filmmaterial als wildes Knäuel. Flaschen mit Resten von Chemikalien stehen daneben. Ein wenig aufräumen und putzen und schon könnten hier wieder Bilder das Laufen lernen.

Beim Streifzug durch die Gänge und Räume sehen wir aufgerissene Schaltkästen, herausgerissene Kabel und abgerollte Feuerwehrschläuche. Wie rote Schlangen kommen sie aus den Kästen in den Wänden oder liegen auf dem Boden. Ihrer Funktion beraubt. Früher Lebensschutz, heute nutzlos. Durch die vielen Fenster fällt reichlich Tageslicht in die großzügigen Gänge und lädt zum Fotografieren ein.

Der durch Ritzen und Öffnungen ins Innere dringende Wind spielt mit Flügeltüren, die schaurigste Laute von sich geben: Babywimmern, Katzenjaulen, Gruselschlossschreie. Ein Klangteppich, der jedem Grusel- und Horrorfilm zur Ehre gereichen würde. Dazu das Rütteln des Sturmes an den Bäumen – ein Rauschen wie im Hochwald. In den dunkleren Kellergeschossen wird so ein unheimliches Ambiente erzeugt.

Ein „Geheimtipp“ von Thilo Wiebers (Gründer von go2know) führt uns auf einen Dachboden, auf dem wir auf sehr alte Zeugnisse der DDR-Geschichte stoßen. Ein rotes Spruchband mit den Worten „Es lebe unser Genosse Wilhelm Pieck“ lehnt an den Dachbalken. Pieck ist 1960 verstorben. Seit über 50 Jahre scheint dieses Banner also bereits hier zu verweilen. Einige Schautafeln mit Bildern, Sprüchen und Texten sind ein Beispiel für die Propaganda der DDR-Zeit.

Der Hof wird flankiert von den Internatsgebäuden. Ursprünglich dürfte dieser Platz wie ein Kasernen-Exerzierhof gewirkt haben. Nun erscheint das Ensemble nicht mehr so streng: Dafür sorgen wild wuchernde Sträucher, hoch gewachsene Bäume und mittig ein paar schöne Koniferen, die eine stattliche Größe erreicht haben. Die Spalten zwischen den weiträumig verlegten Platten sind die Ausgangsbasis für den Feldzug der Moose. Beharrlich rücken sie vor und überdecken teilweise das Grau der steinernen Oberfläche. Die Gebäude selbst beherbergen unterschiedlich große Räume, die nur darauf zu warten scheinen, wieder bewohnt zu werden.

Mehrere Stunden Streifzug durch „verlorene“ Bauwerke. Ein Ausflug in die deutsch-deutsche Geschichte. Aber was stört sich dickes Mauerwerk an Geschichte? Es will bewohnt und genutzt werden. Die Großzügigkeit des Areals, die Lage im Wald, das solide Gemäuer schreit förmlich nach Menschen. So fasziniert den neugierigen Besucher und Fotograf einerseits die Schönheit des Verfalls, andererseits hofft er darauf, dass solche Komplexe rechtzeitig vor dem endgültigen Niedergang gerettet werden mögen. Und so werden die Organisatoren und Teilnehmer der Lost-Places-Touren zu Mahnern des Erhalts und Fürsprechern für Konzepte der Wiederbelebung.

go2know ermöglicht die ausgiebige Erkundung verlassener Orte (Lost Places). Die Gebäude wurden vorher begutachtet und offensichtliche Gefahrenquellen abgesperrt. In den zugänglich gemachten Bereichen kann sich jeder Teilnehmer selbständig bewegen und fotografieren. Die Erkundung erfolgt mit Erlaubnis der Eigentümer und auf eigene Gefahr.

 
Text: Edith Oxenbauer und Marcus Rietzsch
Fotos: Marcus Rietzsch

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