An einem klaren Oktobermorgen betrat ich den Görlitzer Nikolaifriedhof, dessen Tore bereits seit 6:30 Uhr geöffnet waren. Die ersten Sonnenstrahlen tauchten die feuchten Wiesen in ein glitzerndes Licht, Dohlen blickten neugierig von den Vorsprüngen der Nikolaikirche auf mich herab. An diesem frühen Morgen begegnete ich nur einigen Hundebesitzern, die ihre Tiere spazieren führten. Eine besondere Stille lag über dem Friedhof und verlieh ihm eine mystische Atmosphäre.
Ein historisches Denkmal der Friedhofskultur
Der bereits im 12. Jahrhundert erstmals erwähnte, in Hanglage angelegte Nikolaifriedhof ist ein herausragendes Zeugnis frühneuzeitlicher protestantischer Friedhofskultur. Er umfasst mehr als 850 Grabstätten aus drei Jahrhunderten. Die Grabmäler und Epitaphien stammen überwiegend aus der Zeit vom frühen 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie spiegeln verschiedene Kunstepochen wie Barock, Rokoko, Manierismus, Klassizismus und Romantik wider. Jüngere Grabstätten weisen auch Merkmale des Historismus auf. Nach der Eröffnung des ersten städtischen Friedhofs im Jahr 1847 fanden hier nur noch selten Begräbnisse statt.
Zeugen vergangener Zeiten
Siebzehn noch erhaltene barocke Grufthäuser zeugen von der wohlhabenden Vergangenheit bedeutender Görlitzer Familien. 1633 wurde im Westen des Friedhofs der Pestacker angelegt, um die Opfer einer verheerenden Pestepidemie zu bestatten. Dieser Bereich dokumentiert ein dunkles Kapitel der Stadtgeschichte und dient als Mahnmal für die Opfer der Seuche.
Legenden und Mythen
Mein Rundgang begann am Eingang neben der Nikolaikirche, wo ich direkt auf die „Moller-Linde“ stieß. Diese Linde wurde auf dem Grab des Pfarrers Martin Moller gepflanzt. Moller, der im 16. Jahrhundert in Görlitz predigte, wurde des heimlichen Calvinismus verdächtigt und litt unter großen Anfeindungen. Kurz vor seinem Tod äußerte er den Wunsch, dass eine Linde mit den Zweigen in die Erde gepflanzt werde, um die Reinheit seiner Lehre zu beweisen. So wurde die wachsende Linde zur Legende.
Neben der Moller-Linde ranken sich weitere Legenden um den Friedhof. So soll der ehemalige Bürgermeister und Alchimist Gregor Gobius hier spuken. Einem Jungen, der den Geist herausforderte, soll er eine schallende Ohrfeige verpasst haben. Auch der Ring an der Tür seiner Gruft soll sich auf mysteriöse Weise immer wieder lösen, egal wie fest er angebracht wurde.
Erinnerung an die Vergänglichkeit
Während meines Spaziergangs entdeckte ich einige Totenschädel, die mich an die Endlichkeit des Lebens erinnerten – Memento Mori, eine stille Mahnung, die Zeit auf Erden zu schätzen. Der alte Baumbestand und der herbstliche Efeu, der sich an den Backsteinmauern der alten Friedhofsverwaltung emporrankte, verliehen diesem Ort einen Hauch von Romantik.
Der Friedhof als Filmkulisse
Auch Filmschaffende haben die Besonderheit des Friedhofs erkannt. So diente er als Kulisse für den deutsch-französischen Film „Frantz“ und die Krimireihe „Wolfsland“. Görlitz hat sich als Filmstadt etabliert, in der historische Filme und Dramen wie „Die Bücherdiebin“, „Inglourious Basterds“ und „Grand Budapest Hotel“ gedreht wurden. Die gut erhaltenen Gründerzeitviertel und historischen Straßenzüge der Stadt bieten eine perfekte Kulisse für Filme mit geschichtlichem Bezug.
Der Nikolaifriedhof ist ein bemerkenswertes Zeugnis der Görlitzer Stadtgeschichte und ein großartiger Ort, um seinen Gedanken nachzuhängen. Als ich den Friedhof verließ, fühlte ich mich entspannt und inspiriert. Der Spaziergang über den Nikolaifriedhof hatte mir eine wunderbare Auszeit beschert.