1998 gründete Oliver Uckermann das Musikprojekt Stillste Stund, um düster-avantgardistische Klänge mit literarischen und philosophischen Einflüssen zu verbinden. Zwischen Dark Wave, Gothic und experimentellen Klanglandschaften bewegt sich das Projekt abseits des Mainstreams und überzeugt mit tiefgründigen Texten über existentielle und gesellschaftskritische Themen.
Nach 15 Jahren kreativer Pause meldete sich Stillste Stund 2023 mit der EP „Grüße aus dem Fegefeuer“ zurück. Was bedeutet diese Rückkehr für Uckermann und seine Musik? Welche Impulse aus Kunst und Literatur prägen sein Schaffen? Und welche Rolle spielt Musik in einer zunehmend unruhigen Welt?
Im Interview spricht Oliver Uckermann über die Rolle der Musik als Rückzugsort, den Einfluss anderer Kunstformen und Zukunftsvisionen.
I.
Was hat dich nach einer so langen Pause dazu bewogen, neue Musik zu veröffentlichen?
Geplant war es so tatsächlich nicht. Es fielen wohl einige besondere Umstände zusammen. Und es ist sicher auch diesen merkwürdigen Zeiten und all dem Lärm geschuldet, dass wir nochmal im Licht der Öffentlichkeit zu finden sind. Davor haben wir eher die Ruhe in der Zurückgezogenheit genossen. Als Konsequenz daraus allerdings auch den Anschluss etwas verloren. Diese Tendenz gab es aber schon immer mal bei Stillste Stund. Ein kreatives Leben voller Kunst und Musik, alles um einen herum ausblenden und vergessen: ja, unbedingt! Veröffentlichungen waren dabei selten das primäre Ziel.
Am Ende kam noch eine Art Weckruf von Menschen dazu, die Stillste Stund nie losgelassen haben. Irgendwie haben uns die Krisen der letzten Jahre vielleicht gezeigt, dass wir enger zusammenrücken sollten. Die Fassade einer hohlen Welt aus Gaukelei und Lügen brennt jetzt lichterloh, und keine Vernunft, keine Liebe kann sie mehr löschen. Vielleicht suchen Menschen mit Herz und Verstand einander heute mehr denn je. Vielleicht, um den Halt nicht zu verlieren und Rückzugsorte zu bilden. Und das ist auch gut so. Man fühlt sich dadurch nicht allein mit all den erschreckenden Wahrnehmungen. Und so hat man schließlich auch uns aus unserem Dornröschenschlaf wachgeküsst.
II.
Hattest du nach so langer Zeit Angst, dass Stillste Stund in Vergessenheit geraten sein könnte? Wie fielen die Reaktionen auf die neuen Stücke aus?
Wir waren davor tatsächlich davon ausgegangen, dass Stillste Stund längst vergessen sein würde. Das hätte ich auch nicht schlimm gefunden. Es ging eigentlich nur noch darum, unsere verwaiste Homepage zu löschen, als wir vom Provider aufgefordert wurden, die Postfächer dafür zu leeren. Was uns dann an Nachrichten entgegenflutete, war einfach unfassbar! Nicht wenige Leute haben uns über all die Jahre regelmäßig geschrieben. Die Nachrichten wirkten teils wie Briefe an einen lieben Verstorbenen. Oder wie Erzählungen am Grabstein, weil ja auch nichts zurückkam. Wir haben Kunst in allen Formen erhalten. Und Berichte von schönen und schlimmen Lebensereignissen, bei denen unsere Musik den Menschen offensichtlich sehr wichtig war. Einige Sachen waren unglaublich bewegend.
Und uns fiel auf, dass es gerade die letzten Jahre eher mehr als weniger wurde. Obwohl wir ja konsequent wegblieben. Es brauchte dann auch einige Zeit, alles durchzuarbeiten. Und zu erkennen, dass Stillste Stund für viele Seelen ganz offenbar immer ein fester Begleiter im Leben geblieben war.
Die „Grüße aus dem Fegefeuer“ brauchten dann allerdings etwas, bis sie die Leute erreichen konnten. Und das hält offenbar immer noch an. Niemand hatte uns mehr für eine Veröffentlichung auf dem Schirm. Erste Reaktionen kamen umgehend, aber viele kommen jetzt immer noch nach und nach. Da ist viel Dankbarkeit und Anerkennung für unsere Rückkehr.
Wir haben seitdem auch wieder Bekanntgaben auf unserer Homepage. Die Leute sind uns sehr wichtig geworden und sollen sich nicht alleingelassen fühlen. Denn auch wir fühlen uns durch sie nicht allein. Es sind die Unsrigen…
Diese Erfahrung war wirklich sehr besonders!
III.
In deinem Ankündigungstext zur Single „Schmerzstiller“ sprichst du von einem „Rückzugsgefühl“. Welche Rolle spielt Musik als Rückzugsort für dich, und wie kann sie in schweren Zeiten Trost spenden?
Ich hab erst im Laufe der Zeit wirklich verstanden, dass Kreativität, Kunst, Musik, Texte lebenswichtige Fluchtwelten für mich sind. Sie nehmen mich komplett raus. Und man kann dort heilen. Denn sie wirken nicht selten wie eine Art Ventil für aufgestaute Dinge. Trost auch, natürlich. Selbstfindung. Aber das funktioniert irgendwie am besten nur für den Moment und völlig ungeplant. Die intensivsten Dinge entstehen, wenn die Aufnahme nicht läuft und somit keinerlei Zwang dahinter steckt. Vielleicht kann man dabei dem göttlichen Zufall näher sein. Ist man beim kreativen Akt seinem eigenen Unterbewusstsein näher? Wenn man es denn zulässt. Wie in einem Traum mit Zugang zu endlosen Bildern… Ich nehme an, irgendwann fingen die Menschen an, diesem Zufall einen Namen zu geben und ihn anzubeten.
IV.
Wie hat sich deine persönliche Sichtweise auf die Welt und deine künstlerische Vision seit den Anfängen von Stillste Stund verändert? Gibt es bestimmte Erlebnisse, die deine Musik besonders geprägt haben?
Es ist eher so, dass die Musik mich immer wieder an die Anfänge zurückzubringen scheint. Als wenn sie mich auf etwas hinweisen möchte. Natürlich spiegelt sie laufend aktuelle Eindrücke offen oder verdeckt wieder. Erlebnisse, Erkenntnisse, hässliche Einschnitte – sowas hat gravierenden Einfluss. Und doch habe ich das Gefühl, dass ich auch zu Eindrücken aus der Kindheit zurückkehre. Eindrücke, die ja ein Leben lang unterbewusst nachhallen können. Vielleicht kehre ich auch immer wieder zu dem alten Gefühl zurück, der Menschenwelt nicht wirklich zugehörig zu sein.
Versucht man sich über Kreativität selber zu finden? Dann ist das ein Prozess, der scheinbar nie endet. Der Gedanke, dass Kunst ein gebrochenes Spiegelbild von der Welt und einem selbst ist, hat sich seit den Anfängen von Stillste Stund, und auch seit meinen musikalischen Reisen davor, eher noch verstärkt.
Letzten Endes möchte ich sagen, wenn man keinen Schmerz und Verlust kennt, hat man wohl auch nie gelebt. Nicht in meinem Verständnis von Leben. Parallel zu den Arbeiten an „Grüße aus dem Fegefeuer“ habe ich Rilkes ähnliche Gedanken zu diesem Thema auch nochmal gefunden. In seinem „Stundenbuch“ z. B. sagt er: „Lass Dir alles geschehen. Schönheit und Schrecken.“ Besser kann man Leben meiner Meinung nach nicht beschreiben! Auch wenn es für einige zynisch klingen mag. Aber alle Facetten gehören unbedingt dazu. Man muss sie geatmet haben. Ich darf mir diesen Zynismus erlauben…
Gerade heute sehen wir, ob jemand anhand von solchen Erfahrungen eine Art Resilienz in sich aufbauen konnte. Das Leben gibt uns wahnsinnig viel. Aber statt dankbar zu sein, wird sofort auf das geblickt, was fehlt. Oder was andere haben. Konzerne befeuern dieses Verlangen zudem erfolgreich. Und nun wird natürlich lauthals gefordert, dass sich die Welt doch wieder zurückdrehen möge, damit man sich wieder wohlfühlen kann. Aber das wird sie nicht. Man kann sich nicht auf Andere oder auf andauerndes Glück verlassen. Ansonsten wird man sich mit Einschnitten, die früher oder später nun mal eintreten werden, sehr schwer tun. Und man endet dann womöglich wie die Leute, die sich an die Türen von Fastfood-Filialen anketten, wenn diese geschlossen werden sollen.
Man braucht also ein eigenes Konzept – für sich allein. Und das ist sicher sehr individuell. Stillste Stund ist von alldem stark geprägt. Von dem Blick auf das große Bild, von Zäsuren und Grausamkeiten in dieser Welt, aber unbedingt auch von der immensen Kraft im Rückzug! Auch von dem Ausblick auf Erlösung, wenn man seine eigenen Welten und stillsten Stunden betritt und zulässt, sie lebt und atmet.
V.
Der Name „Stillste Stund“ bezieht sich auf Nietzsches Werk. Die stillste Stund repräsentiert einen Moment der tiefen Einkehr und Selbsterkenntnis und ist das größte Ereignis im Leben eines Menschen. Hast du die „stillste Stund“ erlebt? Kannst du davon berichten?
Sie ist Ratgeberin und Trostspenderin und Ideengeberin. Sie zwingt auf brutale Art zu bedingungsloser Ehrlichkeit und Offenheit, weil sie keine Masken zulässt. Sie zieht einen komplett aus und legt den letzten, dunklen Winkel der Seele frei. Nach einer Begegnung mit ihr, gibt es kaum noch etwas zu verlieren. Und das bedeutet auch Freiheit. Vielleicht treffen viele Menschen sie erst kurz vor ihrem Ableben an. Dann erst können sie keine Maske mehr tragen. Nicht mal mehr vor sich selbst.
Ich finde mehr Halt im Rückzug und meinen stillsten Stunden, als bei den meisten Menschen mit ihrem aufgesetzten Drama um belanglose Nichtigkeiten. Es gibt daher auch nur noch wenige, sehr ausgewählte Individuen in meinem direkten Umfeld. Dafür gibt es mit diesen wunderschönen Seelen aber auch eine besondere Verbundenheit, Offenheit und Tiefe.
VI.
Die Texte deiner Songs sind oft von philosophischen Gedanken inspiriert. Welche philosophischen Themen beschäftigen dich derzeit besonders?
Solche Gedanken und Themen blitzen wohl immer mal auf, ja. Und über allem die Frage, was wirklich noch wichtig scheint, wenn man seine eigene Existenz mit Abstand oder gar von außen betrachtet. Einen Schritt zurücktritt, wie bei einem Gemälde. Damit man das große Ganze überblicken kann. Man kann seine eigene Existenz vielleicht nur erahnen, wenn man zwischen den Welten zu wandeln vermag. Und man mehr als nur eine gesehen hat.
Viele Denk- und Glaubenskonstrukte scheinen mir allerdings eine Art von Verdrängungskonzept zu sein. Offenbar, um die Endlichkeit des eigenen Bewusstseins leugnen zu können. Vielleicht auch ein Konzept gegen Panik und soziales Chaos, das mag sein. Aber ein Jenseitsgedanke scheint doch eher eine Art Vermeidungshaltung widerzuspiegeln. Und warum eigentlich all diese Angst vor dem eigenen Erlöschen? Wenn es doch nur natürlich ist, wieder zurück zu fließen… Unser Bewusstsein scheint mir dabei eher biochemisch bestimmt. Dennoch halten sich acht Milliarden Mini-Egos auf einem Staubkorn, das auf einer zufälligen Bahn durchs All trudelt und irgendwann vergehen muss, für bedeutsame Götter im Universum.
Mein Bewusstsein soll vielleicht nur meinem Selbsterhalt dienen. Bewusstsein wäre somit einfach ein Überlebenskonzept der Natur. Wie auch die Vielfalt und Diversität ein wichtiges Überlebenskonzept der Natur sind. Unser Bewusstsein ist etwas Wunderbares, aber aus meiner Sicht so vorübergehend, wie ein Lidschlag. Wir sollten uns nicht wehren. Die Philosophie bietet da sehr viel mehr Ansatzpunkte, ist offen für die abstrusesten Denkansätze ohne sie sofort zu verurteilen oder zu verteufeln. Vieles ist sicher Kopf, einiges scheint auch sehr individuell geprägt zu sein. Wer einen schlüssigen Gedanken oder auch einen tiefen Glauben für sich selbst gefunden hat, dem sei das unbedingt vergönnt. Denn auch dort liegen sehr wichtige Rückzugswelten! Man darf es also niemandem nehmen. Oder ihm andere Ideen aufoktroyieren.
Ich, für mich wohlgemerkt, bleibe wohl auch weiterhin eine nihilistische Seele. Aber mit großem Interesse am Untergang. Der interessierte Beobachter auf einem Hügel bei Picknick mit Gebäck zum Tee. Doch immer auch mit Respekt und Achtung für andere, wirre Ansichten!
VII.
Deine Texte stellen also oft die eigene Wahrnehmung und Existenz infrage. Wie reflektieren diese Themen deine persönlichen Gedanken und Erfahrungen? Welche Bedeutung hat Identität für dich?
Ich habe Träume, Gedankenwelten, Realität schon von Kindesbeinen an gleichgesetzt. Vielleicht hatte ich keine andere Wahl. Es gibt für mich mehr Energetisches, als nur Materie und das, was wir in plastischer Form sehen, wahrnehmen oder messen können. Als Kind hätte ich das nicht benennen können. Ich hatte nur immerzu den Wunsch, zu den Sternen zurückzukehren. Es spielt vielleicht kaum eine Rolle, ob man Dinge in dieser Welt erlebt oder in einer anderen – oder in einem Traum. Ohnehin scheinen verschiedene Leute unterschiedliche Realitäten wahrzunehmen. Auch das Bild von sich selbst ist dabei nicht selten um 180 Grad verdreht. Selbstreflexion und Ehrlichkeit gegenüber sich selbst bleiben aber die Grundlage für Weiterentwicklung. Doch diese Art von Aufrichtigkeit, dieser Blick in den Spiegel, ist selten zu finden. Es verwundert also nicht, dass die meisten Menschen dann auch nicht ehrlich gegenüber anderen sein können.
Wir sprechen heute viel davon, dass die eigene Identität durch soziale Prägung entsteht. Sicher ist Identität etwas, was durch Reibeflächen mit anderen oder mit der Umwelt erst zustande kommen kann. Sie funktioniert demnach nur in einer Gemeinschaft oder in einem System. Wie ein Wald, in dem jeder Baum nur Teil eines Ganzen sein kann. Mit Verbindungen auch unterhalb der Erde. Vielleicht kann auch ein Mensch nicht unabhängig von der Gesamtheit betrachtet werden, ist über eine Art energetisches Wurzelwerk unter der Oberfläche mit allen anderen verbunden. Es ist komisch: Bei aller Abneigung gegen die meisten Menschen ist das nicht einmal ein grausiger Gedanke für mich. Ich verziehe nicht das Gesicht.
Unsere schöne materielle Welt… Am Ende leben wir irgendwie wie ein unruhiger Haufen Ameisen vor uns hin. Bauen Dinge auf und zerstören sie wieder. Nur dass Ameisen vielleicht ein tieferes Verständnis von Gemeinschaft haben. Den tiefsten Gemeinschaftssinn jedoch besitzt ein Baum.
VIII.
Inwiefern beeinflussen andere Kunstformen, wie Film und Literatur, deine musikalische Arbeit? Gibt es Bücher, Kunstwerke oder Filme, die deine Arbeit geprägt und inspiriert haben?
Es lassen sich sicher viele Anlehnungen und Hinweise auf solche Quellen finden. Die direkte Quelle ist wohl meine eigene Gedankenbibliothek. Wobei diese natürlich ganz klar vielen Einflüssen unterliegt, meist aus der Literatur. Ich mag weiterhin antike und klassische Werke. Oder Sachen aus dem 19. Jahrhundert. Technik hat alles nur beschleunigt, aber nicht verbessert. Deswegen möchte ich die Neuzeit weitestgehend ausblenden. Außerdem mag ich die alte Sprache. Es sei denn ich lese zwischendurch etwas zur Zerstreuung, dann ist alles erlaubt. Ansonsten suche ich gerne Ursprünge und Originale, statt moderner Kopien alter Gedanken und Geschichten. Die Bilder, die Bücher in mir hervorrufen, sind auch weitaus größer, als die von Filmen. Obwohl ich auch da komplett wegtreten kann. Fantasie ist einfach grenzenlos, oder? Wenn mir Bilder daraus gefallen, fließen sie bewusst oder unterbewusst ein. Ich denke aber, das ist ein ganz normaler Vorgang.
Man muss sich auch bewusst machen, dass in dieser Welt kaum etwas wirklich Neues aus sich selbst heraus entstehen kann. Dinge bauen wohl immer aufeinander auf. Oder entstehen durch neue Verschmelzungen. Ob in der Wissenschaft oder Kunst. Es kann sehr erfüllend sein, wenn man sich gegenseitig inspiriert und mitnimmt. Auch, weil man dadurch erfährt, was andere in den Sachen überhaupt sehen. Und weil man eine Verbundenheit spürt.
Ansonsten ist es generell wohl so, dass bei der Betrachtung von Kunst immer auch die eigenen, sehr persönlichen Erfahrungen eine erhebliche Rolle spielen. Und so interpretiere auch ich sicherlich die Bilder aus all meinen Quellen unterbewusst um.
IX.
In deinen Texten verarbeitest du auch alte deutsche Märchen, Sagen und düstere Fantasien. Was fasziniert dich an diesen Geschichten, und wie wählst du die Themen für deine Songs aus?
Ich wähle gar nicht unbedingt etwas aktiv aus. Ich bin irgendwie voller Kopfwelten. Warum auch nicht. Man verbringt ja ohnehin irgendwie die meiste Zeit im eigenen Kopf. Es fällt mir nicht schwer, Ideen in irgendwelchen Winkeln meiner Hirnwindungen zu finden. Sie drängen sich dann ohnehin aus einer Stimmung heraus auf. Texte entwickeln sich dann sprachlich und auch inhaltlich. Was aber passieren kann, dass alles mit diversen aktuellen Einflüssen von außen verschmilzt. Dazu mag ich eine gewisse Metaphorik und Ästhetik und Vielschichtigkeit. Und die finde ich eher in Märchen und antiken Sagen als in einer Daily Soap mit irgendwelchen Alltagsintrigen.
Was mir aber manchmal schwerfällt: diese Gedanken und Bilder in eine ordentliche Form zu bringen, die mir selbst dann genügt. Die Texte sind in der ersten Version nicht selten doppelt oder dreimal so lang. Es kostet mich auch enorme Überwindung, ganze Gedankenketten zu streichen, damit alles am Ende eine einigermaßen sinnvolle Form erhält. Diese überschüssigen Ideen und Erkenntnisse landen schon seit vielen, vielen Jahren in einem Ideenbuch, das auch einen Namen hat.
X.
Welchen Stellenwert bzw. welche Bedeutung haben die Artworks deiner Alben und die visuelle Präsentation in Zusammenhang mit deiner Musik?
Die Artworks sind anfangs durch Texte oder Stimmungen inspiriert, bilden sie aber nicht unbedingt 1:1 ab. Eher zeigen sie bereits eine parallele Bewegung, vermischen alles mit neuen Aspekten, die sich einfach ergeben. Ganz ähnlich, wie beim Musikmachen. Man findet immer eine schöne Verbindung, wenn man scheinbar unabhängige Dinge zusammenfügt. Vielleicht leitet einen das Unterbewusstsein dabei an? Sowas finde ich faszinierend. So würde ich mir auch ein Video vorstellen, wenn ich denn die Möglichkeiten dafür hätte. Angelehnt an die Inhalte und dennoch vollkommen frei und unabhängig davon.
Das Artwork zu den „Grüßen“ ist deswegen auch eine Überlagerung diverser Fotos von Dingen, die wir gerade in unserem Umfeld haben. Eine alte Standuhr aus der Bibliothek, eine Taschenuhr, der Nachthimmel über den Bäumen, wenn man aus den Fenstern sieht. Dazu verwelkte Hortensienblüten, die eigentlich für eine morbide Herbstdeko zum Trocknen lagen… Das alles ergibt dann irgendwie eine Atmosphäre.
Ich lehne es ohnehin ab, zu sagen (oder zu denken), ein Artwork muss jetzt dies und jenes abbilden. Ich lehne sowas auch als Lebenskonzept komplett ab. Wir brauchen Platz zum Atmen. Dann kann etwas entstehen, was uns wiederum zu überraschen vermag. Und was unsere eingeschränkten und einschränkenden Erwartungen dann auch nicht selten übertrifft. Alles andere wäre für mich sonst wie Malen nach Zahlen.
XI.
Apropos Herbstdeko: Beeinflussen bestimmte Stimmungen oder Jahreszeiten deine Musik und deine Kreativität?
Es ist nicht ausgeschlossen, dass gerade im Sommer bedrückende Sachen entstehen. Ich bin einfach kein Sonnenmensch. Ich lebe sehr zurückgezogen, weit außerhalb von irgendwelchen Ortschaften. Und ich liebe den Mond über dem Wald bei Nacht. Bei einem Leben so dicht mit der rauen Natur, bestimmt der Jahreskreis und gewisse Arbeiten und Notwendigkeiten dann auch mein Leben auf sehr natürliche Weise. Aber komischerweise nicht mein kreatives Leben. Dafür sind meine Kopfwelten einfach zu weit ab vom Schuss, denke ich. Holz hacken… im Winter sitze ich gerne am Kamin und blicke in die Flammen und lasse sie meine Gedanken mit sich forttragen. In solchen Momenten ist alles möglich. Die Schwierigkeit besteht nur darin, diese Welten dann festzuhalten.
XII.
Die Musikindustrie hat sich in den vergangenen 15 Jahren stark verändert, insbesondere durch die Digitalisierung und die sozialen Medien. Wie gehst du mit diesen Veränderungen um und welche Herausforderungen und Chancen ergeben sich für ein Projekt wie Stillste Stund?
Diese Veränderungen interessieren mich nicht. Auch die Musikindustrie interessiert mich herzlich wenig. Wir sind auch immer noch auf einem analogen Budget-Mischpult unterwegs, und ich sehe keinen Grund, das zu ändern. Ich werde dadurch nicht hipper oder cooler, weil ich aktuelle Technik in der Hand halte. Oder moderne Plattformen und Kanäle nutze. Letzten Endes muss man auch nicht klingen, wie alle anderen klingen. Nicht denken, was andere denken. Und schon gar nicht müssen die Erwartungen anderer erfüllt werden.
Umjubelte Trends stoßen mich ohnehin eher ab.
Bestimmt nutzen wir unsere Möglichkeiten als Musikprojekt nicht effektiv genug aus. Da ist sicher erschreckend viel Luft nach oben. Ich weiß es nicht einmal. Es fließt aber alles, wie es fließen soll. Ob Stillste Stund lange in einem Umfeld aus digitalem Massenkonsum, aggressiver Promotion und kurzlebigen Hypes standhalten kann, ist nicht mal wichtig. Weil es dort für uns ohnehin nie Erfüllung gab.
Wenn es also eine „Chance“ für Stillste Stund gibt, dann nur bei den Menschen, die in diesem Turbo-Hamsterrad nicht mitrennen. Wobei die uns erstmal finden müssen…
Natürlich wird ein Überleben dann extrem schwierig. Aber das war es für aufrichtige Kunst schon immer. Für wirklich alternative Musik. Für Künstler, Bands und Projekte, die nicht in eine eindeutige Vermarktungs-Schublade passten. Für Leute mit Attitüde und mit Sinn für eine gesunde Bewegung gegen den Strom.
Das alles bedeutet aber auch Unabhängigkeit! Und ich werde niemals unsere Unabhängigkeit oder unsere Werte für „mehr Reichweite“ verkaufen.
XIII.
Glaubst du, dass Musik noch denselben „Wert“ hat wie vor 15 Jahren?
Für mich ganz sicher. Für Menschen, die aus dem Herzen heraus mit Kunst und Musik umgehen, hat sich bestimmt nichts geändert. Wer allgemein Dinge wertschätzen kann und davon erfüllt wird, wird das auch weiterhin tun. Und spüren, was richtig ist und was sich gut für die Seele anfühlt.
Ich selbst bleibe wohl eher ein Albumgenießer und möchte das Gesamtwerk. Zudem kann Musikhören für mich auch eine Art Ritual sein. Ein Booklet durchzublättern oder gar Vinyl aufzulegen. Ähnlich einer Teezeremonie vielleicht… Wenn man viel unterwegs ist, wird man das natürlich anders handhaben müssen, das ist ganz klar. Aber das war auch vor 40 Jahren schon möglich. Und auch dabei kann man Musik genießen und darin verschwinden.
Sicher hat der aufgezwungene Überkonsum Einfluss auf die Herde. Man kann sich dem wohl nicht so einfach entziehen, wenn man es nicht anders kennt oder fühlt. Das ist wie mit vielen Dingen. Auf der anderen Seite bringen Krisen sicher auch eine gewisse Intensität in Musik und Texten zurück. Und die Leute gucken hoffentlich mehr auf Inhalte und tiefere Empfindungen. Auch digitale Playlists müssen also nicht mit austauschbarem Füllstoff vollgestopft und unrealistisch lang sein.
Leider scheint aber die Verkümmerung jeglicher Eigeninitiative für viele sehr willkommen zu sein. Vorgesetzte Inhalte als erstrebenswertes Tages- und Lebensziel? Was man früher beim linearen Fernsehen kritisiert hat, die passive Dauerberieselung mit Trivialitäten, hat heute unglaubliche Dimensionen erreicht. Man nennt es jetzt wohl „Erlebnis“. Es hat dennoch nur mit einer Aneinanderreihung von Ablenkungen zu tun. Oberflächlichkeit statt Tiefe – Verdrängung statt Heilung. Das hat dann natürlich auch nichts von Wertschätzung. Weder für die konsumierte Wegwerf-Kunst noch für die verkümmerte Seele.
Nicht auszumalen, was es mit einigen Menschen machen könnte, wenn das Internet einmal abgeschaltet werden sollte. Ich mag auch Brettspiele am Kamin.
XIV.
Was sind deine langfristigen Visionen für Stillste Stund? Gibt es Ideen, die du in der Zukunft realisieren möchtest?
Ich möchte vor allem weiterhin frei atmen und denken können. Unbehelligt bleiben von den Sehnsüchten einer konzernhörigen Gesellschaft, die sich immer schneller um sich selbst dreht und die sich und alle anderen damit krank macht.
Es gibt bei Stillste Stund unheimlich viele Verlinkungen in den ganzen Texten und Geschichten. Viele unveröffentlichte Zwischenstücke. Es wäre ein Traum, alle Zusammenhänge irgendwann mal offenlegen zu können. Jetzt, wo wir wissen, dass so viele Leute uns immer noch so nah sind. Die Wahrheit hinter allem ist viel grausamer, als einige es sich wohl anhand der bisherigen Alben ausmalen können.
Aber erstmal würden wir gerne das Schwesteralbum zu „Von Rosen und Neurosen“ irgendwann veröffentlichen. Es gibt einige Schwierigkeiten, die Songs wiederzubeleben bzw. neu aufzunehmen. Immerhin haben es „Schmerzzähler“ und „Refugium in Finsternis“ daraus jetzt ins Licht der Öffentlichkeit geschafft. Das ist für andere vielleicht nur Kleckerkrams. Aber ich bin dafür extrem dankbar. Diese Stücke passen für mein Empfinden perfekt in diese Zeit und sind mir ohnehin irre wichtig.
Einen größeren Bogen möchte ich gerade nicht spannen oder planen. Das Leben kann dafür einfach zu tückisch sein. Wir gehen also mit kleinen Schritten weiter, zusammen mit dem Wandel dieser Welt. Auch durch unsere eigene Verwandlung. Verwandlung ist Notwendigkeit!
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Nach Jahren der Stille hat Oliver Uckermann seinem Projekt neues Leben eingehaucht – und dies ist wohl nur ein Anfang. Die Musik von „Stillste Stund“ ist Einladung und Herausforderung zugleich: Hörer müssen sich auf komplexe Klangwelten und vielschichtige Texte einlassen. Gerade in einer Zeit, in der Oberflächlichkeit und Schnelllebigkeit dominieren, öffnet Stillste Stund damit einen Raum für Reflexion, Emotion und Auseinandersetzung mit den dunkleren Seiten des Menschseins. Die Musik von Stillste Stund, kann verstören, trösten und gleichzeitig inspirieren. Vielleicht ist es genau diese Verbindung aus klanglicher Tiefe und gedanklicher Schwere, die Stillste Stund so zeitlos relevant macht. Und genau deshalb ist es spannend zu sehen, welche Pfade Oliver Uckermann mit Stillste Stund noch beschreiten wird.
Vielen Dank für das Interview – ich kann das neue Werk kaum erwarten. Das Coverbild von Jekyll&Hyde macht schon Lust auf mehr.
Lasst euch Zeit, wir Fans warten bis zum Ende für das Dargebotene, gerade in diesen unruhigen Jahren
Vielen Dank, dieses Interview bedeutet mir sehr viel. Ich hätte es nicht mehr für möglich gehalten, noch einmal etwas von Oliver zu hören, aber die Hoffnung war immer da.
Um so größer war die Freude, als auf der Homepage von Stillste Stund nach Jahren die Startseite geändert wurde. Jahrelang habe ich immer wieder nachgesehen und auf einmal war da ein Zeichen.
In tiefer Dankbarkeit für alles was da kommen mag.
ich möchte mich ganz lieb bedanken, bei beiden seiten! endlich gibt es online mehr zu lesen. das interview ist verdammt offen in alle richtungen. und auch stark irgendwie. und ich freue mich wie verrückt dass es auch einen kleinen ausblick für die zukunft darin gibt. danke, danke dafür!