Sacht ertönen Bässe, ein Rauschen, ein Fieben, fast eine Melodie. Dann ein Rhythmus, ein Cello, fast schon Harmonie. Und es wird bewusst: Es ist wirklich da! Das erste Das-Ich-Album seit 2006. Vieles ist seitdem passiert. Sowohl den Protagonisten hinter der Band, welche einst mit Neue Deutsche Todeskunst tituliert wurde, sowie in der Welt. „Gezerrt, ganz wirr, das Denken bricht, im endlosen Wahn, ein Alpgesicht. Schädel spalte, Knochen kracht, nicht ein Lächeln – nur die Waffen sind wach.“, rezitiert Stefan Ackermann – Texter und Sänger der Ende der 1980er Jahre gegründeten Band – fast verinnerlicht. „Menschenfeind“ heißt der erste Titel auf dem Album und dieser erinnert inhaltlich an das erste Lied des ersten Langspielalbums der Band. „Die Propheten“ hieß das Werk und begann mit „Es ist ja Krieg“. Eine Klammer von damals ins Heute hinein und ein Zeichen, dass sich die Welt kaum gewandelt hat. „Koma, Koma – Menschenfeind das Leben frisst und frisst / Koma, Koma – Menschenfeind im Reigen kreisen, bis du’s vergisst“ bricht der Refrain herein und Stefans Stimme schreit im Einklang mit Bruno Kramm – Multiinstrumentalist, Sänger und ebenfalls Texter – die zitierten Zeilen.
Eines der ersten Musikprojekte im deutschen Sprachraum, welches der damals entstehenden Schwarzen Szene zugeordnet werden konnte, ist heute noch aktiv. Die einen kennen Das Ich seit Jahrzehnten, für andere blitzt der Name immer mal wieder auf Festivalankündigungen und in Szene-Magazinen auf und wird eher am Rande wahrgenommen; oftmals als Urgestein bezeichnet. Wie eingangs erwähnt liegt das letzte Album mit dem Titel „Cabaret“ fast 20 Jahre zurück. Danach folgte 2008 die EP „Kannibale“. Und dann wurde es still. Stefan Ackermann erkrankte schwer, fiel ins Koma, rappelte sich wieder auf. Einige Konzerte fanden statt, Bruno begann neue Musik zu schreiben. Dann kam der Stillstand durch Corona. Als die finstere Heimsuchung vorbei war, gingen die beiden Herren unterstützt von ihrem aktuellen Live-Musiker Sven Hegewald auf Tour. Es entstanden neue Lieder, die teils bereits live gespielt wurden. Und so langsam standen die Zeichen gut für ein neues Album. Jenes liegt nun mit „Fanal“ vor.
Nach der Einordnung ins aktuelle Zeitgeschehen im ersten Song knüpft der Titel „Lazarus“ an. Jener malt ein dunkles Bild eines todbringenden Lazarus. Die Musik ist eine Mischung aus harschen elektronischen Klängen und Passagen, die an klassische Musik erinnern. Der Gesang ist rauer und aggressiver.
Nach dieser dunklen Vision kehrt das Album textlich zum Ich zurück. „Was bin ich? Was bist Du? Was sind wir wirklich wert?“, fragt Stefan dringlich. Nach der Außensicht folgt die Selbstreflexion. Ein Thema, das sich – wie der Tod, die Religionskritik, die Gesellschaftsbetrachtung – durch alle bisherigen Veröffentlichungen der Band zieht. Selbstzweifel und Sinnstiftung – wichtige und allgegenwärtige Fragen der Jetztzeit. Gerade in Zeiten von Social Media und einem neu aufkeimenden Verlangen, sich Dogmen politischer oder religiöser Natur zu unterwerfen, um nicht allein dazustehen und vermeintlich einfache Antworten auf die grundlegenden Fragen zu erhalten. Das Ich fragen, zählen auf und geben Lösungen oder mögliche Denkanstöße. Und bleiben dabei doch recht allgemein. Mitdenken statt vorgefertigte Meinungen.
Vom Ich löst sich „Vanitas“ und führt zu den Folgen menschlichen Handelns. Im Stile der Vanitas-Strömung in der alten Kunst wird ein Bild der Unbeständigkeit der Dinge gemalt. Und hier folgt eine klare Ansage: Der Mensch ist schuld an Zerfall und Zerstörung. „Das Meer – einst Wiege allen Seins und Lichts, erstickt in schwarzem Schleim aus Menschenhänden“, heißt es im Text. Und wieder taucht der Krieg auf: „Mahnmale wanken, taumeln, nachts Granaten fallen.“ Durch das Benennen der Missstände soll ein Nachsinnen einsetzen und eine Selbstreflexion. Dies ist gegossen in expressionistische Lyrik mit herausragenden Neologismen wie Fieberhirn und Grabeslust, sowie in unheimlich wabernde Musik. Nur Brunos klarer Gesang fügt etwas Gefühl hinzu – aber nur, um traurige Zeilen zu intonieren.
Die zweite Albumhälfte wird von „Dantes Hölle“ eingeleitet. Ein tanzbares Lied, angefüllt mit noch mehr Dunkelmalerei, die jedoch ein Spiegel der aktuellen Weltlage ist. „Es scheint der Welt verboten, der Liebe tiefstes Glück.“ Man könnte meinen, dass die Texte nur herunterziehen. Doch irgendwie liegt auch etwas Trost darin, dass die eigenen Gedanken sich in der Lyrik wiederfinden und man sich daher mit den Emotionen nicht allzu allein gelassen fühlt. Mit der Zeile „Zu wissen, was wir glauben, ist blinde Fantasie. Zu glauben, was wir wissen, ist geborene Utopie“ gibt es eine passende Zusammenfassung des Fake-News/Real-News-Diskurses.
Nachdem die Hölle heraufbeschworen wurde, gibt es im Lied „Brutus“ bestärkende Zeilen, die zum Sich-dagegen-aufbäumen anregen. Der Mensch ist in der Lage selbst zu denken, über sein Handeln zu entscheiden, sein Handeln zu reflektieren und den Lauf der Dinge zu ändern. „Liebe Deine Feinde, erheb Dich laut im Chor. […] Verrate Tyranneien, in aller Menschlichkeit.“
Doch da ein Teil der Menschen diese Vernunft nicht in sich tragen, wird in „Prometheus“ ein höheres Wesen angerufen, dass einem die Kraft geben soll, die Masse von Hoffnung und Vernunft zu überzeugen: „Will nur eine Heldenkraft! Trag das Leuchten in das Land! Will nur eine Feuerseele! Weltvernunft aus meiner Hand!“ Musikalisch wird diese Forderung von treibender Musik, die durch einen schnellen Drumloop und Krach, der fast an Punk erinnert, getragen. Ein musikalisch gesehen bisher untypischer Song für Das Ich, der sich jedoch durch sinfonische Zwischenspiele sehr gut in das Album und das Gesamtwerk einfügt.
Mit Fanfaren beginnt das letzte Lied des Albums, „Genesis“. Setzten sich Das Ich in der Vergangenheit auf bereits erschienenen Alben bereits mit der Schöpfung der Welt, dem Tag nach der Schöpfung und der Entstehung der Sprache auseinander, so geht es in diesem Stück um die von Menschenhand durchgeführte Schöpfung: Die Entstehung der Künstlichen Intelligenz. „Im Anbeginn der Zeit, da der Mensch sich erkannte, dem Gotte gleich in Macht und im Wissen, erschuf er ein Wesen, geformt aus dem Nichts, die Künstliche Intelligenz.“ Das Interessante an dem Text ist, dass er nicht nur den aktuellen Stand von KI wiedergibt, sondern Wünsche im Umgang mit KI sowie an die KI selbst thematisiert. Nur wenn die KI mit Wissen statt Falschinformationen gefüttert, zum eigenen Fühlen befähigt, zum Unterscheiden von richtig und falsch, zum moralischen Denken und guten Handeln erzogen wird, so ist sie vollkommen, heißt es. Der Mensch als Schöpfer, der verantwortungsvoll seine Schöpfung gestalten muss. Beschlossen wird das Erzählstück mit der erneuten Frage, was das Ich ist und was das Ich-Sein auszeichnet. „Jetzt oder nichts, Nichts oder ich.“, flüstert Bettina Bormann (Frontfrau von „Oberer Totpunkt“) zu futuristisch klingendem Dark-Industrial mit Streichereinsatz bevor das Album in Stille mündet.
Insgesamt ist „Fanal“ eine konsequente Fortsetzung des sehr eigenen Das-Ich-Klangkosmos. Und doch klingt das Album textlich wie auch musikalisch sehr nach den 2020er-Jahren. Der Sound ist modern, ohne jedoch die Ursprünge zu vergessen. Gerade die mit dem E-Cello eingespielten Passagen bringen etwas Organisches in die Musik ein, das sich sehr gut mit den von Bruno gesungenen Parts verbindet. Die Texte sind Zeitgeist, ohne zu sehr in der Zeit verhaftet zu sein. Das Album lädt definitiv zum versunkenen Zuhören, Tanzen und Nachdenken ein. Gerade live können bestimmte Lieder durch die energetische Vortragsweise der Musiker bestimmt einen ganz eigenen Sog entwickeln. Das Ich sind noch immer eine relevante Stimme, der Gehör geschenkt werden sollte. Es ist zu wünschen, dass das Album nicht nur in der Schwarzen Szene Anklang findet, da die in den Texten behandelten Themen alle etwas angehen und die Musik – ist sie auch im Dark-Wave- und Gothic-Sound verankert – birgt die Kraft in sich, mehr aufgeschlossene Menschen zu erreichen und hoffentlich zum Denken anzuregen.
„Schlüpf aus deiner Haut und fühle, was in meiner Seele klingt!“
