Lost-Places-Bildbände gibt es zuhauf. Von einem solchen Werk, das ganz bewusst das bevölkerungsreichste Bundesland in den Fokus rückt, erhoffe ich mir neue Einblicke in die Geschichte der Gegend zwischen Rhein und Ruhr, eine andere Sicht auf ausgediente Industrieanlagen sowie romantisch-verklärte Ansichten von verlassenen Büdchen und einstmals prunkvollen Residenzen. Kurz: Ich erhoffe mir ein besonderes Schlaglicht auf besondere Orte. Und von denen müsste es bei der geographischen Vielfalt in NRW doch besonders viele geben, nicht wahr?
Leider ist es dem bekannten Urbexer Daniel Boberg (pixelgranaten.de) nicht gelungen, diese Orte ausfindig zu machen. Er selbst berichtet einleitend davon, wie schwierig es war, in NRW überhaupt an entsprechende Fotolocations zu gelangen: „Tatsächlich hätte ich nicht erwartet, dass es in Nordrhein-Westfalen so schwierig ist, schöne verlassene Orte zu finden. Entweder sind sie bereits abgerissen worden oder so stark bewacht, dass ein Betreten unmöglich ist.“ Erschwerend kam wohl hinzu, dass der Autor erst seit kurzer Zeit in NRW wohnt und sich darum für seine Recherche vor allem auf das Internet verlassen musste. Aber das Internet hat in Sachen Lost Places natürlich kaum Geheimtipps, sondern eher Altbekanntes zu bieten. So findet man den für das Buch abgelichteten Duisburger Güterbahnhof zum Beispiel auf sämtlichen Lost-Place-Seiten, obwohl er – wie auch der Autor zugibt – kaum reizvolle Fotomotive bereithält, und die Zeche Zollverein in Essen ist zwar ein ehemaliges Industriegelände, als solches aber Weltkulturerbe und keineswegs „lost“.
Dementsprechend zeigt der Autor in dem 160-Seiten umfassenden, großformatigen Bildband vor allem eine Dokumentation der Zerstörung. Die verlassenen Orte, die Boberg aufgesucht hat, sind ganz oder teilweise verbrannt, verrammelt und vergammelt. Zehn verschiedene Lost Places hat er dokumentiert. Seine Bilder erzählen weniger davon, was dort einmal war oder gewesen sein könnte, sondern beleuchten eher den aktuellen Umgang mit verlassenen (Industrie-)gebäuden. Der Fotograf zeigt Müll, Graffiti und mutwillige Zerstörung.
Damit unterscheidet sich sein Bildband von ähnlichen Projekten, die sich eher auf Relikte der einstigen Nutzung fokussieren. Aber wo nichts übrig geblieben ist als wilde Efeuranken und herausgerissene Heizungsrohre (vermutlich, um an das eventuell vorhandene Kupfer zu gelangen), kann auch ein Urbexer kaum noch etwas fotografisch festhalten. Dafür hat Hobbyist Boberg das Maximum aus seinen Aufnahmen herausgeholt: Gekonnt spielt er mit Licht und Schatten, mit Farben und Formen. Nach vielen Jahren Urbexer-Erfahrung hat er einen Blick fürs Detail, und wo der nicht weiterhilft, hat er seine Kameradrohne in die Luft geschickt, die einen zusätzlichen Überblick von oben liefert. Kurze Texte zu den jeweiligen Orten ergänzen die Bilder und verraten sowohl persönliche Eindrücke während der Begehung als auch historische Hintergründe zu den verfallenen Stätten.
„Verlassene Orte Nordrhein-Westfalen“ ist darum zwar ein technisch gut gemachter, aber gänzlich unromantischer Bildband, der vor allem Industriefreunde begeistern wird. Neue Einblicke in die Geschichte Nordrhein-Westfalens liefert er leider nicht.
Daniel Boberg: Verlassene Orte Nordrhein-Westfalen. Die Faszination des Verfalls. Sutton Verlag 2020, 160 Seiten, 29,99 €
Einen Blick ins Buch und weitere Informationen gibt es auf der Webseite des Verlages.