Der Harz – ein deutsches Mittelgebirge. Touristen kennen und schätzen schon seit langer Zeit die Natur und die Historie. Sie pilgern den Brocken hinauf und geniessen zu allen Jahreszeiten die Ruhe, die schöne Umgebung und die Freizeitangebote. Doch daneben, im Verborgenen gibt es sie – die verlassenen, vergessenen Orte, Gebäude und Anlagen. Hier lässt sich kein Urlauber blicken. Hierher kommen nur noch die von Zerstörungswut Getriebenen und die Schrottdiebe – und „Festhalter“ wie Marc Mielzarjewicz. Nur vereinzelt, sehr vereinzelt werden diese Stätten neu genutzt. Die überwiegende Anzahl der sogenannten „Lost Places“ ist den stetig einwirkenden Naturkräften und dem Vandalismus ausgeliefert. Es wird nicht mehr lange dauern und es werden nur noch undefinierbare Trümmer von Sträuchern, Gras und Moos überwuchert zu sehen sein. In „Lost Places – Harz“ ist der bedauernswerte Jetzt-Zustand in traurig-wunderschönen Schwarz-Weiß Bildern festgehalten. Momentaufnahmen eines Zustandes zwischen Stagnation und völliger Zerstörung. Der Verfall lässt Nutzungen, Leben und ehemalige Schönheit ahnen. Als würde man „zwischen den Zeilen lesen“. So wie man bei vielen alternden Menschen nicht nur die Spuren ihrer Jugend sondern auch ihren Lebensverlauf sehen kann.
Der Einband des Buches trägt eine Fotografie mit offenstehenden Zimmertüren. Es sieht aus wie eine Einladung. Folgen wir doch dieser Einladung. Besuchen wir ehemalige Produktionsstätten, Krankenhäuser, Heilstätten, Ferienhäuser und Erz-Hütten. Reisen wir mit den Augen nach Hettstedt, Quedlinburg, Sorge und anderen Orten im Harz. Orte, an denen sich einmal Werktätige der DDR preisgünstig erholten, regnet es jetzt durch die Dächer und der Wind fegt Laub durch zerschlagene Fenster. Orte, an denen einmal Werktätige der DDR mehr oder weniger produktiv Schokolade oder Farbpigmente herstellten oder Erz förderten und bearbeiteten, zerfallen die Maschinen- und Anlagenskelette. Die Bilder in „Lost Places“ zeigen sowohl den großen Verfall, als auch die kleinen Details der Erinnerung. Und die Reduzierung der Fotos auf Schwarz-Weiß beeindruckt durch ihre Klarheit und Schnörkellosigkeit. Der Blick auf das Wesentliche ohne irritierende Farbtapeten oder wuchernden Grün.
Im Harz befanden sich bis zur Erfindung der Antibiotika zahlreiche Lungenheilstätten. Nach zwischenzeitlichen Umwidmungen gingen diese Sanatorien in DDR-Zeiten in Kur-Anlagen, Gewerkschafts-Ferienheime oder betriebliche Ferienanlagen über. Die „Wende“ und die Treuhand brachten das AUS für solche Häuser. Aber es bestand auch kein wirkliches Interesse mehr daran. Die Euphorie der Ex-DDR-Bürger, nun nach Italien reisen zu können, überlagerte die doch schönen Erinnerungen an vergangene Urlaubszeiten. Nun bieten Heilstätten und Ferienheime einen verwirrenden Anblick. Der Menschen-Fülle beraubt erscheinen sie besonders groß. Vereinzelte Möbelstück, rudimentäre Sanitärinstallationen, abblätternde Farbe, Trümmer durch brutal entfernte Einbauten erzeugen eine eigenartige Atmosphäre zwischen Dornröschenschloss und Endzeit.
Nun – 25 Jahre später – kann man vielleicht doch darüber nachdenken, ob sich der Erhalt solcher Häuser nach Modernisierung nicht noch als Urlaubs- oder Erholungs-Domizile in landschaftlich reizvoller Umgebung anbieten. Sind die Hotelanlagen in der „Urlaubsländern“ nicht alle irgendwie gleich? Ist es im Ausland wirklich schöner, besser, interessanter?
Die Harzer Hüttenbetriebe – bis 1990 ohnehin unwirtschaftlich betrieben – mussten sich den Härten des konkurrierenden Marktes ergeben. Und auch hier folgte das Aus. Traurig, weil hierbei auch Existenzen zerbrachen. Ein Schlussstrich wurde unter die Geschichte gezogen. Das Resultat war wirtschaftlich gesehen eine Null. Die Anlagen und Gebäude der Eisenhütte Mägdesprung I wurden von Schrottdieben heimgesucht. Kunstvolle Gussarbeiten sind verschwunden. Die Büroräume verwahrlost, Anlagenreste wirken gespenstisch. Ein noch immer gefülltes Aktenarchiv ist ein Zeugnis für die Implosion der DDR-Wirtschaft.
Die teilweise Nutzung von Gebäuden, industriell oder als Museum, zeigt, dass es auch anders geht. Es bedarf neuer Nutzungskonzepte, Pläne, gutem Willen und natürlich ist eine langfristige Finanzierung erforderlich.
Mit „Lost Places – Harz“ ist es Marc Mielzarjewicz nicht zum ersten Mal gelungen, den Zerfall „schön“ aussehen zu lassen und gelebte Geschichte in Bildern einzufangen. Vielleicht lässt sich ja die eine oder andere Geschichte noch weiterschreiben.
Die Entstehungsorte dieser Bilder werden von Sabine Ullrich mit kleinen informativen Texten in Deutsch und Englisch beschrieben. In der Reihenfolge der „Kapitel“ findet man auf Landkarte sogar die genaue Lage der verfallenden Gebäude, was nicht zu einem „Ruinen-Tourismus“ verführen soll, sondern die Dimension illustrieren, in welcher der schleichende Verfall der „Wende-Opfer“ stattfand bzw. -findet.