Bereits seit 25 Jahren beschäftigt sich die Band „Dornenreich“ mit den Tiefen der menschlichen Emotionen und den essentiellen Gefühlen und Aspekten des Seins. Ein jedes Album fasziniert auf seine eigene Art und tönt mal mehr, mal weniger metallisch oder akustisch. Doch mit dem neuen Werk, das nach beinahe sieben Jahren Entstehungszeit pünktlich zum Jubiläum erscheint, werden ganz neue Klangarten erschlossen, die dennoch in ihrem Kern die Essenz Dornenreichs so lebendig und leidenschaftlich transportieren.
Das erste Lied „So ruf‘ sie wach das Sehnen“ klingt wie eine Aufforderung. Zuerst ertönt Perkussion, dann das Gitarrenspiel. Und kaum sind die ersten Minuten vergangen, ist das neue Klanggewand vertraut. Denn auf diesem Album gibt es kaum klassisches Schlagzeug zu hören, sondern vordergründig Trommeln wie Djembe und Darbuka – eingespielt von Moritz „Gilván“ Neuner. Diese passen erstaunlich gut zum E- und Akustikgitarrenklang der Band. Der Sound ist überraschend frisch und extrem lebendig. Und auch die schon sonst extrem vielfältige Stimme des Bandmasterminds Jochen „Eviga“ Stock hat an neue Nuancen dazugewonnen. Neben dem vertrauten Flüstern, Sprechen und Schreien gibt es diesmal prägnante Gesangsstimmen, die sehr emotional und oftmals leidend klingen und das Gesamtklangbild vervollkommnen. Textlich geht es um die Sehnsucht und ihre treibende Kraft. Ein Aufbruch. Hin zum nächsten Lied. Im Stück „In Strömen aus Verwandlung ein flackerloses Licht“ strahlt die Musik eine Atmosphäre zwischen Traum und Wachen aus. Beschrieben wird die Liebe zur Natur. Die Natur als Hort, Inspiration und der gedachte Spiegel der menschlichen Emotion. Ihr Strahlen und ihre Wildheit bilden das zentrale Motiv dieses zwischen treibenden und ruhigeren Parts schwankenden Liedes. Das nächste Stück beginnt mit einem verführerischen Basslauf, gefolgt von ebenfalls treibender Perkussion. Noch nie klang Dornenreich so lustvoll, voller Begierde und Anziehung. „Dein knöchern‘ Kosen“ dreht sich um menschliche Anziehung und wilde Vereinigung. Besonders markant ist das südländisch angehauchte Akustikgitarrenspiel und der schließende Refrain mit dem „Nichts ist falsch an diesem Rausch“-Schreien, bevor das Lied eruptiv endet. Das vierte Lied mit dem Namen „Liebes dunkle Nacht“ beginnt einlullender, wartet aber mit einem zynischen Text auf, wie er auch auf das „Flammentriebe“-Album gepasst hätte. Darin wird Narzissmus und daraus abgeleitete Überlegenheit des Individuums gegenüber anderen aufgedeckt. Der Refrain kommt perkussiv treibend daher und wird von melancholischem Gesang begleitet. In der zweiten Liedhälfte verzaubert Thomas „Ínve“ Riesner mit einem lebhaften Violinensolo. Im anschließenden Titel wird die Sehnsucht nach Verbindung laut. „Der Freiheit Verlangen nach goldenen Ketten“ thematisiert die Angst vor der Bindung an einem anderen Menschen und die Angst vor Selbstaufgabe, welche mit jener Sehnsucht im Zwist stehen. Es endet jedoch in der hoffnungsvollen Erkenntnis „In dir beginnt auch äuß’res Land“ und dem Drang eine Bindung als Ausweg aus eigener Einsamkeit einzugehen. Der im Lied begonnene spannungsvolle Dialog zwischen Stimme und Violine wird dann im folgenden Stück „Sie machen Mangel zum Geschenk“ fortgesetzt. Der Text wartet wieder mit Spott auf. Die anbiedernde bis mahnende Stimme beschreibt die Suche des lyrischen Ichs nach Erfüllung durch andere. Innere Ausgeglichenheit versucht es durch Gaben anderer zu füllen, obwohl das Gegenüber dieses speziell Gesuchte nicht geben kann. Dies führt zu Vorwürfen, Beschuldigungen und der späten Einsicht „Wer sich hat, kann geben“. Mit seiner temporeichen Perkussion, dem schnellen rifflastigen E-Gitarrenspiel und dem flinken Violinenspiel wirkt das Lied sehr rockig und eingängig, bevor am Ende ein ruhigerer Part kommt, welcher von einem Akustikgitarrenintermezzo zum Höhepunkt getrieben wird. „Das Geheimnis des Quellkosters“ ist das ruhigste Lied auf dem Album. In dem akustischen Lied mit dem märchenhaften Titel sinnt das lyrische Ich auf introvertierte, meditative Weise über den Ursprung innerer Kraft und innerer Erfüllung nach. Es wird die Quelle für Kraft und Liebe aufgedeckt. Dabei fühlt man sich in einen hallenden Traum versetzt, welcher versöhnlich nach all der Gesellschafts- und Selbstkritik wirkt. Insgesamt ist dies das Lied, das am offensichtlichsten nach älteren Dornenreichveröffentlichungen klingt. Dies setzt „Das Sehnen von Mond und Sonne“ fort. Beginnt dieses Stück doch mit einer markanten Gitarre, gefolgt von Schlagwerk. Doch der Gesang tönt neu. Erzählt wird das Märchen von der Sehnsucht von Mond und Sonne nach Vereinigung und Nähe, welche nie gestillt werden kann, doch aus der gewaltige Kraft entströmt. Der Text schließt mit den Versen „Da Mond und Sonne wirklich lieben / Entspinnt sich Sein aus beider Glanz“. Im vorletzten Stück des Albums „Dem Kühnen in der Stille“ erwachen Euphorie und Aufbruch von neuem. Alles fußt auf innerer Zufriedenheit, dem Glück, welches aus freiem Geben erwächst und der Erfüllung durch Verbindung. Getragen wird all dies durch eine tanzende Geigenmelodie und der kühn tönenden Stimme. Das mittlerweile neunte „Dornenreich“-Album gipfelt in der freien und wilden Verbindung zweier Individuen jenseits aller Konventionen und Fesseln. „Freiheit erlösen“ ist musikalisch wie textlich eine Zusammenfassung und gelungene Klammer des Albums mit der zentralen Aussage „Erlöste sie doch nur Verbindung“ und dem treffenden Bild „Tänzer schwinden im Tanz“, mit dem das Lied leise ausklingend schließt.
Bei der Limited Edition folgt noch der Titel „In tiefem Schweigen“, welcher an das letzte Lied anknüpft und die Verbindung in Liebe textlich tiefer ausformuliert. Besonders an diesem Stück ist der atmosphärische Frauengesang von Nadja Daniel, welcher neu für den „Dornenreich“-Klangkosmos ist. Ebenfalls neu ist der auf der Bonus-CD enthaltene Audiokommentar Jochen „Eviga“ Stocks. Darin werden Hintergründe zu den Songs und den Aufnahmen erzählt, interessante Entstehungsgeschichten einzelner Titel anekdotisch eingestreut und die Texte als inszenierte Lesung untermalt mit Melodien aus den eigentlichen Liedern stimmgewaltig vorgetragen. Wobei die Poeme, die neben der Musik schon immer zentraler Kern dieser besonderen Band sind, noch intensiver und klarer wirken können und noch intensivere Gänsehaut hervorrufen.
Rundum ist es „Dornenreich“ gelungen, den bandeigenen Kern um neue Aspekte zu erweitern und bereits eingeschlagene Wege klarer herauszuarbeiten. Der Liebe wird so vielfältig und zwiespältig – wie diese Emotion im wahren Kern ist – nachgespürt. Auch die Gestaltung des Artworks ist sehr stimmig und passt perfekt zur Musik. Das in Schwarz-Weiß gehaltene Coverbild stammt von Markus Stock, Produzent des Albums sowie Musiker bei „Empyrium“, „Noekk“, „The Vision Bleak“ und „Sun of the Sleepless“, alle weiteren Naturaufnahmen im Booklet vom Fotografen Peter Grießer. Insgesamt stecken so viel Liebe und Detailversessenheit in der Gestaltung wie in der Musik. Also rundum ein gelungenes Kunstwerk.
Es bleibt spannend, wohin die Reise mit dem nächsten Album führen wird. Eines steht bereits fest: Auch die nächste Station wird wahrhaftig und leidenschaftlich wie das eigene Sein.