Das Virus hat die Menschheit hart getroffen. Fast über Nacht ist seit März diesen Jahres vieles nicht mehr so, wie es mal war: Keine Flüge, kein Inselurlaub, keine Gruppentreffen. Einkaufen und Schule? Am besten online – oder auch gar nicht. Ich schaue zurück und erinnere mich daran, wie es war, zum ersten Mal die Bilder aus Italien zu sehen, auf denen Menschen vor geschlossenen Geschäften standen. Das passiert uns nie, dachte ich. Zwei Wochen später waren auch hier in Deutschland alle Läden zu. Jemand schrieb zu Beginn der Pandemie im Netz: Nach Corona wird vieles mehr so sein wie vorher. Warum sollte sich in zwei Monaten irgendetwas geändert haben, dachte ich. Jetzt haben wir Juli und ich beginne zu verstehen, was dieser Mensch damals meinte.
Mittlerweile hat sich die Lage weitgehend normalisiert – wenn man angesichts von Maskenpflicht und Mindestabstand von einer Normalisierung reden möchte. Wir dürfen wieder in Cafés und Kneipen, und auch kleinere Gruppen können gemeinsam etwas unternehmen. Was weiterhin nicht möglich ist: Sich in großen Gruppen ohne Mindestabstand zu treffen, feiern zu gehen und Konzerte zu besuchen. Dass sind aber leider genau die Dinge, die eine Subkultur ausmachen.
Ich habe mich, wie so viele, über Pfingsten nach Leipzig gewünscht, bin aber nicht hingefahren. Es heißt, dass einige Treffen trotz Corona stattgefunden haben – ganz zwanglos, mit Mindestabstand im Grünen. Ein persönlicher Austausch war da wohl eher nicht möglich. Andere berichten vom Tanzen in Kneipen – klar, kann man machen. Ist angesichts einer Pandemie aber großer Mist und nicht zu empfehlen.
Die gute Nachricht an diesem Treffen: Offenbar haben Menschen nach wie vor Lust auf Subkultur. Die schlechte Nachricht: Es gibt kaum noch Möglichkeiten, sie auszuleben. Es mag viele Gothics geben, die einen großen Freundeskreis in der Szene ihr Eigen nennen. Diese Leute habe ich immer beneidet, denn ich gehöre nicht dazu. Diese Menschen besuchen sich jetzt untereinander, treffen sich im kleinen Kreis. Diese Möglichkeit habe ich nicht. Ich bin gezwungen, in Clubs, auf Konzerte und Festivals zu gehen, wenn ich Seelenverwandte treffen möchte. Das geht aktuell nicht. Seit vier Monaten geht das nicht. Ich hätte nie gedacht, dass vier Monate so trostlos und so lang sein können.
Was bleibt? Mein Alltagsschwarz und die unbestimmte Sehnsucht nach dunkler Inspiration. Nach überraschenden Momenten, nach Austausch, nach dem Anblick schöner Menschen, nach Gesprächen, die mit Normalos ausgeschlossen sind.
Und die Aussichten werden nicht besser: In diesem Jahr wird das Gothic-Leben, wie ich es bisher kannte, nicht möglich sein. Und auch für 2021 deutet nichts auf eine grundsätzliche Änderung der Lage hin. Was bedeutet das? Statt auf Festivals zu gehen, fahre ich mit dem Rad eine Runde ins Grüne. Statt abends Konzerte oder Partys zu besuchen, bin ich im Garten und jäte Unkraut. Früher habe ich zur Entspannung und zur Inspiration Musik genossen. Das ist in der letzten Zeit deutlich weniger geworden. Mir fehlt die Inspiration durch neue Musik und altbekannte Bands, durch Festivals, Mittelaltermärkte und Conventions.
Damit mich niemand falsch versteht: Durch Covid-19 sterben Menschen. Covid-19 ist scheiße. Ich halte die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus darum für gut und richtig. Dass es bei uns verhältnismäßig wenig Opfer gab und gibt, lag sicherlich daran, dass Deutschland so viel gegen die Ausbreitung getan hat. Dennoch steht hier nicht nur eine Szene auf der Kippe, es ist der Kultursektor insgesamt, der plötzlich und unmittelbar mit dem Überleben zu kämpfen hat. Festivals, Lesungen, Konzerte, Treffen, Podiumsdiskussionen – alles abgesagt, verschoben, aufgehoben. Die komplette Event- und Livebranche steht ganz akut vor dem Aus. Das betrifft nicht nur unsere kleine Szene, sondern auch andere Off- und Subkultursparten, bis hin zu den Größten im Musik- und Kultursektor. Nun ist dieser Bereich zwar nicht gerade mit einem Lobbyverband gesegnet, aber es heißt nicht umsonst Kreativbranche: Neue Lösungen müssen her, und an denen wird wie verrückt gearbeitet. Aber egal ob Strandkorbkonzert oder Picknicklesung: Neue Formate brauchen Zeit, um sich zu entwickeln, und natürlich Geld. Geld, das eine Subkultur naturgemäß kaum aufbringen kann.
Der Fernsehsender MDR sendete zu Pfingsten die Dokumentation „Wie Goth unsterblich wurde“ und komplettierte damit eine Trilogie über die Gothic-Szene, deren ersten beiden Teile zu Pfingsten 2018 und 2019 ausgestrahlt wurden. Im letzten Beitrag wird das Bild einer lebendigen, sich wandelnden Szene gezeichnet, deren Pluralismus und Offenheit für ihr Überleben sorgt. Das scheint mir angesichts der aktuellen Lage wie eine Verhöhnung der Tatsachen. Offenheit lebt von Austausch, der aber ist aktuell kaum möglich. Natürlich kann auch Youtube der Inspiration dienen, natürlich können Online-Blogs eine Diskussion anzetteln und natürlich kann ich meine schwarzen Vorhänge schließen und mich zu Hause bei Rotwein dunklen Tönen hingeben. Vielleicht inspiriert mich das sogar. Den unmittelbaren Austausch mit echten Menschen ersetzt das allerdings nicht.
Ich als freischaffende Künstlerin und Autorin kann aktuell meine Kreativität niemandem zeigen, kann sie nicht teilen. Existiert sie dann aber überhaupt noch? Existiert eine Subkultur noch, die nicht sichtbar ist? Braucht nicht Subkultur die akute Konfrontation mit dem Massengeschmack, um sich zu definieren? Ich jedenfalls freue mich über jeden einzelnen Schwarzgewandeten, den ich im Alltag sehe. Allein der Anblick hat etwas Tröstliches. Dennoch gehe ich nach wie vor noch lange nicht so viel vor die Tür wie vor Corona, und darum sehe ich auch weniger Menschen – und noch weniger Gothics. Angesichts dieser Umstände – und ich muss es leider so ausdrücken – ist die Gothic-Subkultur für mich in diesem Frühjahr gestorben.
Eine Szene wie unsere, die in gewisser Weise zwischen Traditionsbewusstsein und Rebellion steht, darf, kann und sollte meiner Meinung nach vor diesem Hintergrund neue Wege für den Austausch finden. Es ist an der Zeit, wieder der Subkultur im ursprünglichen Sinne zu frönen – in kleinen Gruppen, mit privat organisierten Treffen. Mit spontanen Akustikkonzerten auf der Wiese, mit düsteren Lesungen unterm Sternenhimmel, beim gemeinsamen Musikhören am See. Kleine, aber feine Aktionen, bei denen anschließend der Spendenhut herumgeht. Natürlich wird davon niemand reich. Aber vielleicht reicht das dem einen oder der anderen zum Überleben. Vielleicht führen kleine Veranstaltungen statt riesiger Konzerte trotz Mindestabstand zu einem neuen Gefühl der Verbundenheit. Und ganz vielleicht, wenn sich nicht alle in ihre Online-Welten und Filterblasen flüchten, kann die Gothic-Szene in ein, zwei Jahren glanzvoll wiederauferstehen.
Die Zukunft der Gothic-Subkultur ist heute so unsicher wie noch nie zuvor in den rund vierzig Jahren ihres Bestehens. Nur eines ist sicher: Nach Corona – wann immer das sein wird – wird vieles nicht mehr so sein wie vorher.