Zwischen steilen Bergen und dem Hallstätter See drängen sich auf einem schmalen Uferstreifen Haus an Haus. Kirchturm und andere, teils auf Pfählen oder den Fundamenten früherer Bauten errichtete Gebäude spiegeln sich im Wasser. Im Hintergrund erhebt sich ein malerisches Bergpanorama. Diese etwas kitschig und romantisch anmutende Kulisse lockt an einem Sommertag bis zu 4.000 Besucher in die kleine Marktgemeinde Hallstatt in Oberösterreich, die selbst nicht einmal 800 Einwohner zählt. Die engen Gassen sind an solchen Tagen dicht bevölkert. Bei asiatischen Gästen ist dieser Ort besonders beliebt. Etwa 80 % der Touristen kommen aus dem Reich der Mitte und umliegenden Staaten. Für ein chinesisches Wohnprojekt wurden gar Teile von Hallstatt kopiert.
Der Weg zum einzigartigen Beinhaus führte durch schmale, verwinkelte, teils von Restaurants gesäumte Gässchen. Unglaublich: Einst verlief ein Pfad gar durch die Dachböden der Häuser. Der das Ortsbild mitbestimmenden katholischen Kirche und den Grabstätten des kleinen Friedhofs widme ich vorerst nur einen kurzen Blick. Gegen einen kleinen Obolus darf der Karner oder auch Ossuarium (von caro = Fleisch, os = Knochen) besichtigt werden. Und obwohl der Raum unerwartet klein ist, lohnt es sich, die etwa 610 mit Namen und Sterbedatum beschrifteten bzw. bemalten und auf Holzbretter drapierten Schädel zu bewundern.
Die Tradition der zweiten Bestattung kam um 1720 auf. Die Annahme, diese Maßnahme sei dem Platzmangel auf dem winzigen Friedhof geschuldet, musste revidiert werden. Nur wenige Familien pflegten diesen Brauch. Nach zehn bis 20 Jahren Liegezeit nahm man den Schädel aus der Erde. Nachdem dieser vom Totengräber gereinigt wurde, stellte man ihn zum Bleichen durch Sonne und Mond im Freien auf. Die Bemalung führten oftmals ebenfalls Totengräber aus. Aber auch Künstler oder Verwandte taten diesen allerletzten Dienst. Die Bemalungen sind häufig typisch für einen bestimmten Zeitraum. Schädel mit Kränzen sind die ältesten – je dunkler der Kranz, desto älter. Andere Phasen kennzeichnen sich durch schmale Kränze und ein farbiges Kreuz. Ebenso sind Blumenornamente und grüne Blätter (Eiche, Efeu, Oleander) gepaart mit einem schwarzen Kreuz zu entdecken. In dieser Fülle einmalig. So ist das große Interesse nicht verwunderlich. Doch ich hatte Glück: Plötzlich stand ich allein im Raum. Ein kurzer Moment der Abgeschiedenheit und Ruhe, in dem die Einzigartigkeit dieses Ortes wirken konnte und die Welt still zu stehen schien, ehe die nächsten Besucher die mit schlichten Schädelreliefs verzierte Holztür aufstießen und das Ossarium betraten.
Text: Edith Oxenbauer (verfasst 2015)
Fotos: Marcus Rietzsch