Einstürzende Neubauten – Alles in Allem

Einstürzende Neubauten - Alles in allem

Die 1980 in West-Berlin zustande gekommene Musikgruppe Einstürzende Neubauten ist im Bereich der (Sub)Kultur der Inbegriff der Lärmeskapaden und Klangforschung. Loteten sie in den frühen Jahren noch die Extreme der mit Instrumenten und der menschlichen Stimme erzeugbaren Geräusche aus, so widmen sie sich auf den jüngeren Alben der kultivierten Krachkomposition. Nach dem letzten regulärem Studioalbum „Alles wieder offen“ aus dem Jahr 2007 erschien 2014 die Auftragsarbeit „Lament“, gefolgt von der 2016 veröffentlichten und ironisch betitelten Werkschau „Greatest Hits“. Nun am 15.05.2020 erschien das eigenständige Album „Alles in Allem“.

Im vierzigsten Jahr ihres Bestehens setzen sich die Einstürzenden Neubauten derzeit aus den Musikern Blixa Bargeld, Alexander Hacke, N. U. Unruh, Jochen Arbeit und Rudolph Moser zusammen. Diese fünf sind auch auf dem Cover des neuen Albums zu sehen. Sie posieren vor einem klinisch weißen Hintergrund, im oberen Bildabschnitt prangt das bekannte Logo der Band, weiß gebettet in einem hellblauen Kreis. Damit wirkt das Cover frisch, so hell und beinahe freundlich wie keines zuvor. Dies lässt jedoch keinen Schluss auf die Musik zu.

Das Album beginnt mit dem Lied „Ten Grand Goldie“. Geräusche leiten das Stück ein, dann ein Surren, bevor die treibende Perkussion und der sägende Bass einsetzen. Herr Bargeld beginnt seinen Text mit den Worten „Übervaterlandverräter und Mutterkornblumenblau / Hier kommen die Wüstentöchter und / Schlangensöhne / Meine Familie, haargenau“. Die Musik stoppt, ein geleiertes Sprachsample folgt. Wer über die verschiedenen Kanäle der Band die Entstehung des Albums mitverfolgte, weiß, dass dies von einem aufgenommenen Anruf stammt. Die Band hatte Fans und Teilnehmer des von der Band einst ins Leben gerufenen Supporter-Projekts aufgefordert, im Studio anzurufen. Blixa fragte diese dann, was der zuletzt von ihnen gehörte Satz war. Daraufhin antwortete ein Anrufer „Ten Grand Goldie“. Der Text zum Song besteht aus mehreren dieser Sätze, welche zu einem dadaistisch anmutenden Gedicht zusammenwuchsen. Zwischen den Refrains deklamiert Blixa eigene Verse wie „Hier kommt die ganze Brecherfamilie / Ausbrecher, Einbrecher, Wegbrecher / Guten Morgen Taganbrecher! / Es klafft die große Schere / Aber sie kommen von unten herauf / Sie machen ihre eigenen neuen Regeln“. Diese Worte erschaffen eine beklemmende Stimmung, von etwas, das „von unten herauf“ drängt. Sich Gehör verschaffen will. Ein lyrischer Fingerzeig auf die aktuelle Lage der Welt oder eine Anspielung auf das neue Aufbegehren der Musikgruppe, in deren Namen bereits ein unerhörtes Ereignis steckt. Musikalisch spiegelt sich dies in den Krach- und Ruhemomenten des Titels wider.
Das darauffolgende Lied „Am Landwehrkanal“ beginnt ruhig. Der dominante, von Alexander Hacke gespielte Bass wabert dahin, darauf bettet sich Blixas Stimme. Er hebt an, eine Geschichte zu erzählen. Sie handelt von Personen, die sich einst am Landwehrkanal trafen. Am Tag, aber auch bei Nacht. Doch dann heißt es: „Jetzt ist sie nicht mehr dabei / Am Landwehrkanal.“ Ein Lied vom Fehlen einer Person. Vorgetragen mit teils zweistimmigem Gesang und einem melancholisch beschwingten, musikalischen Rahmen. Es ist das erste der insgesamt vier nach Berliner Orten benannten Lieder.
In „Möbliertes Lied“ geht es um den Entstehungsprozess eines Liedes. „Ich hab‘ unser Lied frisch renoviert“, wird verkündet. Das Lied wird als eine Wohnung dargestellt. Sie wird umgebaut, eingerichtet, zurechtgemacht. Am Ende soll dort die Tochter einziehen. Sie darf alles hineintragen, doch keinen Gott. Hier ertönt das erste Mal Blixas ganz eigener Schrei. Kurz, variabel, durchdringend. Musikalisch gleitet das Lied im Midtempo dahin, trägt einen durch die Räume und die Geschichte, bevor es abrupt mit der letzten Textpassage „Unsere Tochter wird hier wohnen / gut mit, gut ohne uns / Was immer sie an Neuem findet / Was immer sie her bringt / Um Himmels Willen: keinen Gott!“ endet.
Metallgeläut und Sirenenlärm leiten das vierte Lied des Albums ein. „Wir leben hier nicht mehr / Schon lange“ heißt es gleich zu Beginn von „Zivilisatorisches Missgeschick“. In diesem Stück toben sich die Einstürzenden Neubauten aus. Es ist eine Welt-Raum-Erschaffung, eine dystopische Klanginstallation, die in vielen Momenten an alte Aufnahmen aus der „Halber Mensch“-Schaffensphase erinnert. Hier klingt der markante Schrei Bargelds angsteinflößend, gequält. Es sind noch Sachen von den einst dort Lebenden vorhanden, doch sie „leben hier nicht mehr / Schon lange / Schon lange nicht“. Mit Geisterstimme wird immer wieder „We don’t live here anymore“ intoniert. Überzeugender wurde ein Eindruck von Apokalypse selten gezeichnet.
Auch „Taschen“ beginnt treibend und unruhig. Zuerst mit Rudolph Mosers prägnanter Perkussion, dann mit Streichern und Harmoniegesang. Das Lied erinnert an Blixa Bargelds Zusammenarbeit mit dem italienischen Komponisten Teho Teardo, bis N. U. Unruh mit Bespielten Reisetaschen die Harmonie unterbricht. Der Text bleibt unkonkret, erstreckt sich in Gedankenreflexionen über das Suchen, Weggehen und Warten. „Was wir in deinen Träumen suchen? / Wir suchen nichts / Wir warten / Wir warten / Irgendwo müssen wir ja warten“.
In „Seven Screws“ bleiben die Streicher erhalten. Zu ihnen gesellt sich ein entspannter Basslauf. Im Text wird von Veränderung gesprochen. Die sieben Schrauben, die einen zusammenhalten, werden gelöst, die Fragmente neu zusammengesetzt, das Alphabet neu gemischt. Und am Ende halten wieder sieben Schrauben alles zusammen. Die Metamorphose kommt teils mit Schrammelgitarre und Metallgeklopfe daher.
Zum Titeltrack „Alles in Allem“ wurde ein Video veröffentlicht, in dem der Sänger vor einem Tasteninstrument sitzt. Die Augenlieder mit silbernem Glitter geschminkt, das Haupt einer Diva gleich mit Blumenkranz geschmückt. Das ruhige Harmonium erschafft eine dichte Atmosphäre. Die perfekte Klanglandschaft für das im Text geschilderte skurrile und surrealistisch anmutende Puppentheaterspiel. Das Gedicht erinnert an die abstrakten Texte auf dem Schwarzen Album von Ton Steine Scherben. „Unter der Grenze hängt ein Lichtfraß / hinten trägt er ein zweites Gesicht / Sein Junges kriecht im Dialog dahinter / Ins Abseits – vorwärtsgewandt“. Und am Ende kommt die Erkenntnis: „In der Unendlichkeit / Bin ich auch / Alles in Allem / Unendlich oft vorhanden“.

Mit „Grazer Damm“ wird der Berlinzyklus fortgesetzt. Es ist ein besonderes Lied. Eine lässige Gitarre dominiert den Klang. Der Straßenname wird beständig wiederholt. Der Text nimmt Bezug auf die Geschichte der im Süden des Berliner Ortsteils Schöneberg gelegenen Straße. Diese wurde Ende der 1930er Jahre angelegt. Eine Siedlung, in der die Häuser über Kachelöfen, Waschküchen unterm Dach und Luftschutzkeller verfügen. Ein Wohnviertel konzipiert für den Krieg. Es wird eine Episode erzählt. Der Bruder, noch ein Kind, steht am Fenster der Dachgeschosswohnung, das schlaflose lyrische Ich daneben. Auf der Straße findet Krawall statt, der festlich anmuten soll. Der Protagonist ist erbost, da der Lärm die schlafende kleine Schwester wecken könnte. Es wird von herabstürzenden Fallschirmspringern berichtet. Sie schlagen auf und wundern sich, dass sie schon am Boden angekommen sind. Und selbst „ein Selbstmord mit Gasherd sprengt ein Loch in die Fassade“. Auf den Höhepunkt getrieben wird der Bericht als die metaphorische Zeile „Die Züge und der Tod fahren nachts / neben der Regenrinne über das Dach“ ertönt. Ein Text der Bilder malt, dem man gespannt folgt und der lange nachhallt. Passend in ein ruhiges Klanggewand gehüllt. Eine Reise in die Geschichte, die bis heute nachwirkt.
Nach dem „Grazer Damm“ wird der Berliner Stadtteil „Wedding“ besucht. Der Ortsteil, in dem das Studio der Einstürzenden Neubauten liegt. Zuggeräusche, der Hacksche Bass brummt wie ein fahrender Waggon, es wird „Wed-ding-ding-ding“ gesungen. Jochen Arbeit steuert eine punkige Gitarre bei, der Rhythmus wird schneller, beinahe tanzbar. „Vom Osten in den Westen / Wedding Wedding Wedding“, eine bloße Textzeile oder gar eine Anspielung auf die Innerdeutsche Teilung. Es bleibt offen. Das Outro erinnert stark an West-Berliner-Bands der 1980er Jahre.
Das Album endet in „Tempelhof“; auf dem verlassenen Tempelhofer Flughafen, um genau zu sein. Symphonisch, ruhig, beinahe andächtig. „Da wo die Nacht am flachsten / Und voller Türen ist / Da komme ich abhanden.“ Man folgt ins Flughafengebäude, durch die Vorhalle, deren Boden von Blättern bedeckt ist, durch die Schalterhalle, „Hier wird nicht abgefertigt / Kein Ballast aufgegeben / Ohne Kontrolle durch die nächste Tür“. Die Natur hat sich den Betonkoloss einverleibt; nistende Vögel, Salvia und Bohnenkraut. Am Rand des Rollfeldes heißt es „Hier komme ich abhanden“ und die Musik geht ins Fieben über bevor sie verstummt.

Insgesamt ist „Alles in Allem“ kontrolliert, ruhig, in anderen Momenten aufbrausend. Die Wildheit liegt im Detail und im Zwischenton. Die auf „Silence is sexy“, „Perpetuum Mobile“ und „Alles wieder offen“ eingeschlagene Richtung wird fortgesetzt, der eigene Klangkorpus um neue Aspekte ergänzt. Ein Schritt voran, nicht ohne auf alte Erkenntnisse zurückzugreifen. Es stört nicht, dass der Krach in neuem Samtgewand daherkommt und der so markante Schrei des Frontmannes nur an ausgewählten Stellen zu hören ist. Man hat mit gereiften Männern zu tun, denen man ihren Ursprung dennoch anhört. Die Einstürzenden Neubauten erzählen ihre ganz eigene(n) Geschichte(n) neu. Oft auch mit dem gewohnten Augenzwinkern und der subtilen Schärfe. Besonders ist der starke Berlin-Bezug. Schien die Stadt bei alten Alben eher am Rande durch, so ist sie nun für einige Texte richtungsweisend. „Alles in Allem“ ist eine runde Sache mit Ecken und Kanten und wird ebenso bei Liveauftritten zu überzeugen wissen. Die Texte als auch die Musik sind wie immer besonders. Die Inhalte liegen zwischen abstrakt und aktuell. „Alles in Allem“ ist im Hier und Jetzt stark verankert und vorhanden.

Tracklist:
01 Ten Grand Goldie
02 Am Landwehrkanal
03 Möbliertes Lied
04 Zivilisatorisches Missgeschick
05 Taschen
06 Seven Screws
07 Alles in Allem
08 Grazer Damm
09 Wedding
10 Tempelhof
Spieldauer: 44 Minuten

Das Album erschien als reguläre Version auf CD und Vinyl sowie als Ltd. Deluxe Box Set inklusive Bonuslieder.

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