Joachim Witt muss eigentlich nicht vorgestellt werden. Wer von diesem Künstler bisher nichts gehört hat, lebt wohl in einer anderen Welt. Sein neustes Werk trägt den Titel „Ich“. Der Name ist Programm. Es ist ganz und gar sein Album: seine Musik, seine Texte, sein Denken, sein Fühlen. Das Cover präsentiert sich schlicht aber prägnant: schwarz, weiß Schrift, roter Stern und Balken. Ohne Bombast, nur Joachim Witt. Innen trifft man auf Witt im Profil, markant, schwarz-weiß, mit einem klein abgebildeten Vogelschwarm (scheinbar Krähen). Auch das Booklet imponiert. Hier steht jemand zu sich. So wie er jetzt ist. Düster-rot mit schemenhaft abgebildeten Wald und eben Witt. Für Hörer, die beim Goldenen Reiter stehen geblieben sind oder für die „Bayreuth I“ die ultimative Platte ist, dürfte „Ich“ eine Herausforderung sein. Lebenserfahrungen, Altersweisheiten, Angst vor der kürzer werdenden verbleibenden Zeit, Enttäuschungen mit und durch andere Menschen, Hoffnungen und Bitternis. Eine melancholische Mitteilung, wer denn Joachim Witt heute ist. Diese Mitteilung muss nicht bei jedem gut ankommen, es kommt auf das Denken und Empfinden des Empfängers an. Nicht jeder Alte verfügt über Empathie und nicht jeder Junge gehört zur Spaßgeneration. Zugegebenermaßen bin ich nur etwas mehr als einen Monat jünger als Witt und kann die Melancholie seiner Worte sehr gut verstehen. Alt werden ist Schei…, doch es ist schon faszinierend, wie sich im Laufe der Zeit die Sicht auf die Dinge des Lebens infolge von Erfahrungen verändert.
An dieser Stelle möchte ich einen großen Teil des Werbetextes von ADD ON MUSIC einfügen. Fast euphorisch wirbt dieser u. a. für die Tiefe des Albums. Was sich mit meinen Eindrücken durchaus deckt. So bleibt den folgenden Worten kaum noch etwas hinzuzufügen.
„(…) ‚Ein Album für alte Seelen!‘, so könnte man beim Hören der neuen Kompositionen denken, und dass mit ‚ICH‘ sicherlich auch die vielfältigsten Erwartungen verbunden sind. (…) Man muss ein reflektierender und erfahrener Mensch sein, um diesem Album nicht einfach nur folgen zu können, sondern mit ihm in Resonanz zu gehen und sich schließlich in vielen Songs nicht nur wiederzufinden, sondern regelrecht aufgehoben zu fühlen. Es ist ein kritisches Album. Das an sich ist schon ein Geschenk in der deutschsprachigen Musikszene. Doch es ist nicht allein gesellschaftskritisch, jedenfalls nicht zuerst. Nein, es ist menschen-, haltungs-, seelenkritisch. Und es ist wahr und aufrecht – so wie der Sänger selbst. Vielleicht wirkt der Witt, den man in den Melodien und Texten wiederfindet, manchmal etwas windgebeugt und knorrig, aber immer ungebrochen. Witt zeigt sich in diesem Album abgeklärt, aber in keiner Sekunde ohne die Bereitschaft zum Widerstand.
Joachim Witt hat dem Publikum ein Album voller Weisheit geschenkt. Doch es ist zur großen Freude seiner Hörer nicht die Klugheit literarischer Scholastik, die intellektuelle Sängerköpfe oft selbstverliebt hervorbringen. Nein, hier musste kein Text kopflastig gedichtet werden, hier wird alles aus dem Erfahrungsbrunnen der lebenssatten Wahrhaftigkeit gezogen, melodisch ummantelt und dann als scharfer Pfeil in Kopf und Herz der Hörer geschossen. Das schmerzt mitunter, doch zugleich heilt es auch. Joachim Witt ist hier kein Ankläger, kein Provokateur, kein Rebell. Er ist ICH, Witt. Er öffnet sich, sehr tief, und lässt dadurch die gleichermaßen tiefe Öffnung seiner Hörer zu. Das ist beinahe schon musikalische Katharsis. So gut ist dieses Album, tatsächlich. Auf jeden Fall zu jenen, die viele Dinge über sich wissen. Wer bereits Narben von all seinen Kämpfen hat, wird die Schmerzhaftigkeit der Erkenntnisse, die dieses Album bereithält, zu schätzen wissen. Witt kann stechen; mit sezierender Intensität dringen dann die musikalischen Nadeln bis dorthin vor, wo sich Leid verhärtet hat. Und dann setzt, unerwartet manchmal, Heilung ein. Witt legt die Hände auf, und dort, wo der Hörer die Berührung zulässt, wird klar: du bist nicht allein mit deinem Schmerz und deinem Zorn, mit deinen Enttäuschungen und deinem Leid. Du trägst auch immer Hoffnung in dir. Verzweifle nicht, alles hat einen Sinn. So banal das für einen jungen Menschen klingen mag, so sehr wird der reife Hörer dieses seltene musikalische Geschenk zu schätzen wissen. Es ist kein Album für alte Menschen. Sondern eines für alte Seelen.“
Wer ehrlich zu sich selbst ist, gibt zu, dass er in Songtexten oft sich selbst sucht und sich zumindest idealisiert in den gesungenen Worten wiederfindet. Und solche Lieder kommen dann auch besonders gut an. Lieder, in denen eigene Träume, Wünsche und Gedanken in Worte gefasst sind. Und deshalb wird heute noch bei Konzerten generationenübergreifend bei „Goldener Reiter“ mitgesungen. Lauthals und textsicher.
„Ich“ ist anders, anspruchsvoller. Vielleicht auch anstrengend, weil man manche Wahrheit lieber verdrängen möchte. „Ich“ – eine Auseinandersetzung mit dem Lebenslauf, mit Menschen, mit Gefühlen. Das kann auch traurig machen. Oder wütend. Falsche Entscheidungen, falsche Freunde. Und die Zeit rast. Meine Hochachtung vor dem Mut von Joachim Witt. Es würde mich freuen, wenn seine treuen Fans sein „Ich“ offen aufnehmen – auch wenn es von Neuer Deutscher Härte weit entfernt ist. Keine Ahnung, ob man dazu tanzen mag und kann. Wenn, dann sollte man sich sehr auf die Texte einlassen und sich der ruhigen Musik hingeben. Jeder Hörer wird „seinen“ Song finden, oder auch mehrere.
Joachim Witt – Glückwunsch zum „Ich“.
Titel:
Über das Meer
Was soll ich dir sagen
Warten auf Wunder
Bitte geh mir aus dem Weg
Hände Hoch
Lagerfeuer
Wieviel mal noch
Tod oder Leben
Oder ein Mädchen aus Amerika
Es wirbeln die Äste
Alles was ich bin
Olé (Klub)
Nachtflug