New Model Army: Winter in Berlin

4. Oktober 2016

BERLIN, HUXLEY´S NEUE WELT

Insbesondere im vorderen Bereich war noch reichlich Platz, als „King Kong Calls“ den Abend musikalisch einleiteten – was sich selbstverständlich noch ändern sollte. Der durchaus gut gemachte 70er-Jahre-Rock mit Blues-Elementen bekam seinen verdienten Beifall, doch viele konnten den Auftritt von New Model Army kaum erwarten. Und so wurde die Umbaupause zur mächtigen Geduldsprobe, deren Spannung sich umgehend nach dem ersten Ton der britischen Formation entlud.

New Model Army sind ein Phänomen. Die meisten Bands wären überglücklich, hätten sie „nur“ eine Handvoll Titel, welche Konzertbesucher mit Garantie in Begeisterungsstürme versetzen. Das musikalische Repertoire von New Model Army umfasst hingegen unzählige solcher Selbstläufer.

Doch wie sich beim Auftritt in Berlin zeigte, stehen selbst die Stücke vom brandneuen Album „Winter“, welches die erste Hälfte des Konzerts dominierte, den Klassikern in nichts nach. Die Reaktionen fielen großartig aus. Und so wurde bereits der Refrain des ersten Titels lautstark mitgesungen, als wäre er schon seit Jahren fester Bestandteil eines New-Model-Army-Auftritts.

„Burn the castle, burn the castle, burn the castle, burn down the castle…“

Ein großartiger Einstieg, bei dem der Funke umgehend übersprang. Im Verlaufe des Abends schien sich dieser Enthusiasmus gar noch zu steigern.

Und obwohl Justin Sullivans eindringliche Stimme angeschlagen war, legte er in jeden Satz, in jedes Wort sein ganzes Herzblut. Schuld an seiner Heiserkeit seien übrigens die Hamburger, die ihn einen Tag vorher nicht von der Bühne lassen wollten, wie er mit einem Lächeln entschuldigend anmerkte. Doch zu jenem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass auch das Berliner Publikum „keine Gnade“ kennt und ihn zwei Stunden auf der Bühne hält. Zumindest wurde er gesangstechnisch tatkräftig unterstützt.

Was folgte versetzte zwischenzeitlich beinahe die ganze Halle in Bewegung. Alle Titel – beispielsweise „White coats“, „Wonderful way to go“, „Get me out“ oder ihr wohl bekanntestes Stück „51st state”, eine Coverversion von „The Shakes“, deren Sänger Ashley Cartwright erst vor wenigen Wochen verstarb – wurden mit großer Wahrhaftigkeit und Leidenschaft dargeboten und so mit großer Begeisterung aufgenommen.

Für große Freude sorgten die Gastauftritte eines Cellisten und einer Violinistin, die einige Stücke mit ihren zauberhaften Tönen zusätzlich bereicherten und sich perfekt in das Gesamtspiel aus Gitarren, Bass, Schlagzeug und Keyboard einfügten.

Bei New Model Army treffen Temperament und Schwermut, Professionalität und Leidenschaft zusammen. Und obwohl der charismatische Justin Sullivan in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag feierte und schon seit über 35 Jahren gegen die Missstände dieser Welt „ansingt“, ist von Resignation nichts zu spüren. Wie in jungen Jahren wird das Übel kraftvoll und voller melancholischer Wut beim Namen genannt und niemals schweigend hingenommen. Ohne dabei jedoch die Hoffnung zu verlieren.

Sicherlich sind viele Fans mit der Band gealtert, aber wie ein Blick ins Publikum offenbarte, sprechen die zeitlosen Klänge auch die jüngere Generation an.

Am Ende darf sich das Berliner Publikum über eine besondere Zugabe freuen: Ein melancholisches Duett von Violine und Gitarre wurde mit fast frenetischem Beifall belohnt, ehe alle Dämme brachen, als neben Schlagzeuger Michael Dean auch Gitarrist Marshall Gill und Bassist Ceri Monger zu den Trommelstocken griffen, Keyboarder Dean White den Bass umschnallte, die Arme der Besucher nach oben schnellten und der Refrain von „Vagabonds“ lautstark intoniert wurde.

„We are old, we are young, we are in this together
Vagabonds and children, prisoners forever
With pulses a-raging and eyes full of wonder
Kicking out behind us again.”

Was für eine tolle Klangkulisse. Gänsehaut pur und ein krönender Abschluss. Justin Sullivan genoss den Applaus, den er scheinbar keineswegs als Selbstverständlichkeit betrachtete. Fast ein wenig demütig wirkend reckte der sympathische Musiker einen Daumen nach oben, bevor er die Bühne verließ. Nicht ohne noch einen scheuen Blick zurück auf das jubelnde und zufriedene Publikum zu werfen.

Fotos: Marcus Rietzsch

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