Oswald Henke liest

27. April 2012

BERLIN, THEARTER GALLERY

Die kleine, bis auf den letzten Platz gefüllte Galerie in Berlin-Lichtenberg ist düster-romantisch gestaltet. Von der Decke hängen Kronleuchter und die Wände sind mit schwarzem Stoff „verkleidet“. Kugellampen in orangerötlichen Stoffen geben ein nur dezentes und sanftes Licht, was die warm schimmernden Flammen zahlreicher Kerzen nicht einengt. Hinter einer improvisierten Miniaturbar werden kalte Getränke und eine duftende Gemüsesuppe angeboten. Man fühlt sich „wie zu Hause“. Zusammen mit einer etwas größeren Familie in einem etwas größeren Wohnzimmer.

Derzeit schmücken die Wände der Galerie großformatige Bilder. Teils schemenhaft dargestellte Menschen überlagert von fließenden, springenden, explodierenden plastischen Farben – vorwiegend in höllischem Rot. Ein wohl ideales Ambiente für eine Lesung von Oswald Henke. Denn hinter der Bühne befindet sich ebenfalls ein riesiges, düster-rotes Bild, vor dem der Autor noch etwas dämonischer zu wirken scheint.

Nach kurzen einleitenden Worten des Galeriebetreibers, in denen er die Gäste im „Vorort zur Hölle“ (allein aufgrund der hochsommerlichen Temperaturen eine gut nachvollziehbare Bezeichnung) begrüßt, nimmt Oswald Henke pünktlich seinen Vorleseplatz ein. Er verständigt sich mit dem Publikum. Legt „Verhaltensmassregeln“ fest. Und erläutert seine „Strafhandlungen“ bei unerlaubtem Schwatzen und ähnlichem „Ungehorsam“. Mit Kreide wird jedoch nicht mehr geworfen. Sehr nett. Weiße Flecken auf schwarzer Weste!? Dafür hat der Autor jedoch eine Schleuder. Und natürlich entsprechende Geschosse. Allerdings gepaart mit mangelhafter Treffsicherheit. So besteht trotz aufmerksamen Lauschens der gesprochenen Worte akute Gefahr, getroffen zu werden.

Der Großteil des anwesenden alternativ-schwarzen Volks kennt Oswald Henke offensichtlich schon lange und ist mit seinen vergangenen und gegenwärtigen musikalischen Projekten – Goethes Erben, Henke, Fetisch:Mensch, Erblast und Artwork – vertraut. Die von dort bekannten Texte – kritisch, wütend, besorgt, leidend, kämpferisch, hoffnungsvoll, zweifelnd und verzweifelt – berührten und berühren. Henke hält den Hörenden den Spiegel vor und oft erkennt man daran unweigerlich die eigenen Gesichtszüge. Gedankenvolle Texte stimmen nachdenklich. Diese Nachdenklichkeit, diese Anklage, zwischen Ohnmacht und Rebellion finden sich dann auch in seinen bisher veröffentlichen Büchern wieder: „FSK 18 – tendenziell menschenverachtend“, „Spaziergang durch ein Minenfeld“, „Ich habe mir die Liebe abgewöhnt und bin doch weiter süchtig“, „Seelenkonzil“. Und in dem in diesem Jahr erscheinenden neusten gedruckten Werk. Gedanken in vorlesbare Sätze gefasst. Und so dringen diese Gedanken gesprochen, geschrieen, geflüstert, gehaucht in die Ohren und in Gehirne der Zuhörenden. Henkes Worte reißen mit in Tiefen. Und in Höhen. Traurigkeit und Lachen liegen oft nah beieinander. Wir lauschen gespannt, angespannt. Denn Henke liest nicht einfach nur, sondern er lebt und zelebriert die Texte. Er seziert die Sätze, zerstückelt Gedanken. Erschreckend. Hautherunterreißend. Ausufernd die Gedanken, wenn man diese weiterfließen ließe. Der Zuhörer ist persönlich angesprochen und einbezogen.

Henke ist sich der Macht und der Schwere seiner Worte bewusst. Er weiß, dass diese die Hörer „von den Stühlen haut“. Um dann wieder aufzubauen, rekrutiert er eine „freiwillige“ Assistentin, die nach seinen Anweisungen Seifenblasen produziert. Die innere Dunkelheit in uns armen Zuhörern wird von einem Kinderlachenaugenglitzern abgelöst. Oswald Henke – ein Kind – will hoffen. Auf eine etwas bessere Welt, auf eine Handvoll besserer Menschen. „Was Du nicht willst, was man Dir tut, das füg auch keinem Andern zu.“

Daneben leistet eine Art TÜV für „schwarze“ Süßigkeiten wiederholt seelischen Aufbau. Die Akzeptanz auf die Geschmacksangriffe fällt unterschiedlich aus. Nicht alles scheint eine Gaumenfreude zu sein, doch alle Testpersonen überleben. Die Kommentare Oswalds hingegen sind köstlich und amüsant.

Zwischenbemerkung: die Schleuder-Munition erweist sich als weich und verletzt den versehentlich getroffenen Nichtschwatzenden höchstens ein wenig an der Ehre.

So „perfekt“ und sicher Henke liest (oder auch frei gesprochen und dabei im Buch blätternd), so chaotisch sind seine „Show-Einlagen“. Die benötigten Utensilien auf der Bühne versteckt bis unauffindbar. Henke hastet in den Backstagebereich, sucht und redet weiter und weiter…unsichtbar aber hörbar. Plötzlich taucht alles wieder auf. Auf seinem Tisch. Und schon folgt ein „Hostien-Workshop“, für den Schutzkleidung angezogen wird. Man kann schließlich nie wissen. Hostien gibt es in verschiedenen Größen und Farben. Und können selbst hergestellt werden, wie Henke zeigt. Die handgefertigten Oblaten werden zwangsverkostet. „Der Leib Christi“ inbegriffen. Schrägbissiger Humor. Sehr schön. Nur bei der schwarzen Hostie wagt Henke den Selbstversuch. Jetzt ganz ohne Schutzkleidung. Doch den Probanden trifft weder ein Blitz noch zerfällt er zu Staub…

Und so schnell ist die Zeit vorangeschritten. Faszinierend ist die Person Henke, faszinierend die Texte, faszinierend die kindliche Seite des Autors. Ein wundervoller Abend – trotz oder gerade wegen der Düsternis.

Wie Henke sagt: „…Am Valiumregenbogen fußt das Katzengold…“

Fotos: Marcus Rietzsch

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