21. Mai 2004
LEIPZIG, WERK IIFreitag, 21. Mai 2004 – ein sogenannter „Brückentag“. Davor der „Herrentag“ und das Wochenende folgt. In Berlin konnte man am Morgen den ÖPV tatsächlich mal von der angenehmen Seite genießen. Von einer staufreien Stadtautobahn mal ganz zu schweigen. Ja doch, es war ein angenehmer stiller Freitag. Weitab der üblichen Hektik. Sogar die Bahn via Leipzig kam und fuhr pünktlich (doch, ehrlich).
Ohne Stress und mit einer LKW-Reifen großen Pizza im Bauch trafen wir am Werk 2 ein. Und wir konnten einfach so den Hof betreten!!!! Keine Kleiderschränke, die inquisitorisch meinen kleinen Teddy auf Waffentauglichkeit prüfen…
In der Dunkelheit der Halle standen die Gäste eher sortiert als reichlich herum. Aus den Lautsprechern drang Bach, original.
Seit ich mich voll und ganz der Musik des Schwarzen Szene widme, habe ich mich sehr entfernt von der Klassik… aber das ist wohl wie mit dem nicht zu verlernendem Radfahren… diesem gewaltigen Zauber der Bachschen Konzertstücke konnte ich mich unmöglich entziehen. Tonfolgen, die mir die Knie weich werden ließen. Das Dröhnen der Orgel machte das Herz weit… es war wie ein Schweben. Ach was erzähl ich denn, wer Bach kennt und liebt – der weiß, was ich fühlte. Einfach überwältigend.
Aber was erwartete uns? Wir fragten uns: wie setzt sich die Zuhörerschaft zusammen? Wie werden die Reaktionen sein?
J. S. Bach – seit mehr als 250 Jahren tot. Seine Musik einzig und allein der „Ehre Gottes dienend“ fasziniert mehr denn je die unterschiedlichsten Menschen. Und über Bach brauche ich wohl nichts weiter Geistreiches sagen (könnte ich eh nicht, das machen Musiker und Wissenschaftler sowieso viel besser).
Ja, und nun Bach, einer der ganz Großen. Seine Musik übertragen, umgesetzt in Ausdrucksweisen des Schwarzen Volkes. Historische Kompositionen – Orchester unter der Leitung berühmter Dirigenten füllen die riesigen Musik-Tempel dieser Welt. Und jede christliche Kirche mit einer Orgel weiß damit sogar Heiden zu locken.
Pünktlich zum Beginn waren dann doch die B.A.C.H.-Gäste zahlreich genug, um das Werk 2 zu füllen. Und wir hatten ganz vorn am Bühnengraben Platz gefunden. Wow – was für ein Genuss. Das sonst übliche 2-Meter-Mann-Jahrestreffen direkt vor unserer Nase fiel diesmal aus. Freie Sicht auf die Künstler und die Instrumente. Und das fand ich diesmal sehr wichtig.
Beginn:
Tassilo Männer ist Gitarrist bei der Band „Scarecrow“. Die gehören nicht gerade zu den Interpreten romantischer Melodien… vorsichtig ausgedrückt. Ja, und Tassilo spielte Gitarre. Und zwar richtig!!! Seine Finger liefen, flogen schwebten, tanzten über die Saiten. Die Töne perlten und jagten, weinten und jubelten. Allein das Zusehen war ein Genuss. Dieser Musiker schien auf der Bühne allein zu sein mit seiner Gitarre. Ein intimes Gespräch zwischen Freunden. Das Gesicht konzentriert…. um dann strahlend aber auch jeder einzelnen auf ihn gerichteten Kamera einen Kussmund zu schenken. Ja, was sag ich zur Musik. Die muss man hören. Dominierende Gitarrenläufe, kräftige Drums – und die bekannten Melodien Bachscher Werke winden sich hindurch, überlagern unverkennbar.
Kräftiger Beifall belohnte die Band und Tassilo. Ja doch, überwiegend hörte man Händeklatschen (nicht nur das szeneübliches Johlen, Pfeifen und Rufen). Beim Umschauen sah ich nicht nur Schwarzes Volk. Das hat mir gut gefallen.
Die Umbaupause war zeitlich mehr als reichlich bemessen. Die Organisatoren gaben offensichtlich jeder Band jeweils die volle Stunde als Start vor. Nun gut. Wir hatten ja original Bach von der CD. Leider handelte es sich wirklich um EINE CD. Die Wiederholungen riefen bei absoluten Nicht-Kennern schon den Aha-Kenne-Ich-Effekt hervor. Fürs nächste Fest empfehle ich dringend die Anschaffung einer Zweit-CD. Bach jedenfalls hat mehr geschaffen, als auf eine CD passt.
21.00 Uhr – Anke Hachfeld – Sängerin von „Mila Mar“ – betrat die Bühne. Die begleitende Band „Mutation Bach“ mit klassischer Zusammenstellung der Instrumente. Die Musiker durchweg Mitglieder bekannter Bands der Szene. Anke stand also auf der Bühne. Gesammelt, in sich gekehrt, angespannt… irgendwie weit weg. Die einleitenden Worte dem „Faust“ entliehen „…am Anfang war die Tat“ setzten in meinem Kopf sofort ein großes Fragezeichen. Ja, und dann folgten Worte… Ankes Worte, gesprochen, gehaucht, geweint. Lockend, trauernd, klagend, hoffend. Mal weise, mal erotisch, mal kindlich. Viel verletzliche Seele… verwoben mit weichen, sanften Bach. Mir war, als würden diese Worte allein an mich gerichtet. Sicher, nicht jeden Gast wird dieser Beitrag so emotional aufgewühlt haben. Bach mit solchem Text zusammenzuführen – das ist ein Experiment. Meiner Meinung nach ist es gelungen. Schade, dass Bach nicht dabei sein konnte – über solche Ehrerbietung wäre er gewiss erfreut.
Und… Umbaupause. Abwarten bis zur vollen Stunde. Bach als unendliche Schleife nervt. Sorry. Gott sei Dank kann man sich unterhalten.
Die Band „In the Nursery“ – das sind die Humberstone-Zwillinge. Sie schaffen Sounds von explosiver Energie, gepaart mit exaktem, vollen Drums und unwahrscheinlich variationsreichen Klängen. Die beiden auf der Bühne, mit ihrer Computertechnik, den „Kesselpauken“ und einem Solisten mit Querflöte. Ja, da stutzte ich doch. Hä?! Das geht? Und wie das geht! Beide Musiker sind hochkonzentriert. Da könnte die sprichwörtliche Bombe platzen – nur die beiden. Sie verständigen sich mit kurzen Blicken. Die Finger arbeiten an den Reglern, wie ein Klaviervirtuose auf seinen Tasten spielt. Es ist umwerfend. Wenn die Drums zum Leben erweckt werden… die Schlegel schlagen nicht – sie saugen förmlich die warmen, vollen Töne heraus. Musik mit einer Leidenschaft gemacht, wie auch Bach sie empfunden hat. Nur eben andere Musik. Der Querflötist mühte sich gewissenhaft und redlich, diesem Volumen seine zarten Töne noch aufzusetzen… vielleicht habe ich an der falschen Stelle gestanden, oder ich habe einen Hörschaden… jedenfalls habe ich die Flötentöne kaum wahrgenommen. Tat aber dem Hör- und Seh-Genuss keinen Abbruch. Ach was vielleicht so als Information noch passt: In the Nursery schreiben Musik für Filme. Bekannte Filme. Beispielsweise „Interview mit einem Vampir“. Wirklich aufregende Musik.
Nun wieder die Schleife… aber noch länger, als erwartet. (Lieber Veranstalter, ich leih Dir auch meine Bach-CDs…). Hinter den Vorhängen wuselt es herum. Viele Beine sind zu sehen. Aha: nackte Waden. Muss Ronan sein. Auf der Bühne nur eine Reihe Scheinwerfer. Das umgekehrte Kasperle-Theater der Beine ist witzig anzuschauen. Was treiben die da? Ein Stehbiertisch? Simultan-Schach im Stehen? Es ist spannend. Hm, findet noch etwas statt? Sagt aber auch niemand was. Als hartgesottener Festivalteilnehmer harren wir aus. Geduldig, schwatzend, schmunzelnd. Vor allem aber: NICHT auf die Bach-CD hören!!!!
Dann endlich das große Ereignis – der Vorhang gleitet auseinander. Ronan von „VNV Nation“ und Joakim von „Covenant“ tragen einen Tisch aus der Hinter-Welt auf die Bühne. Technik! Elektronik! Und das mit Ronan. Also ich gebe zu: ich bin kein Computer-Fachmann respektive -Fachfrau. Aber eine Tochter der Firma, bei der ich angestellt bin, verwertet Elektronikschrott. In den Schrottcontainern sieht es eigentlich nicht viel anders aus, als auf dem Tisch.
Nun ja, irgendein Getöse ging los. Nur kurz. Ronan fummelte herum, Joakim schaute interessiert in das Gewirr. Nicht, dass irgendjemand dem Publikum sagte, was los ist. Vielleicht war ja gerade DAS der Auftritt. Den man einfach nicht zu würdigen wusste. Ach nein, war es doch nicht. Kurz und überraschend dann phantastisch treibende Musik. Kein Stillstehen möglich. Absturz. Enttäuschtes Abwarten. Die Beiden auf der Bühne mühen sich. Bringen das Chaos wieder kurzfristig in Übereinstimmung… Schade – diese Umsetzung hätte ich gern ganz und ohne die aus der Stimmung reißenden Unterbrechungen gehört. Der hörbare Rest jedenfalls ein furioser Tanz zwischen Bach und Szene-Musik vom Feinsten. Also diese Adaption perfekt auf CD gebracht – und das kann so in die Clubs. Die Tanzflächen werden voll sein. So kann Bach begeistern. Und vielleicht auch zum Hören des Originals verführen.
Für mich war es ein wunderbarer Abend. Ich würde gern eine CD haben mit diesen Vorträgen. Wenn auch die Gestik und Mimik der Realität dann fehlen. Aber vielleicht hat der Kamera-Mann ja auch brauchbares Material für eine DVD?
Selbstverständlich sind solche Adaptionen immer gewöhnungsbedürftig. Könnte aber sein, dass hier zweierlei Hörgewohnheiten aufeinander treffen und sich vereinen. Der Eintritt in eine neue Musikwelt ist jedenfalls möglich. Wer ohnehin Klassik UND die Musik der Szene mag – der konnte sich vollständig dem Genuss hingeben.
B.A.C.H. – da haben Künstler etwas gewagt – und sie haben gewonnen.
Vielen herzlichen Dank.
Nachtrag: wie aus informierten Kreisen verlautet… es lief nicht nur eine einzige Bach-CD in einer Endlosschleife. Es handelte sich um individuelle Zusammenstellungen der Originale, die den nachfolgenden Adaptionen zugrunde lagen. Natürlich gibt es bevorzugte Originale… deshalb dieser Effekt der mehrfachen Wiederholungen.