René Sydow – Warnung vor dem Munde

Nach dem ersten Soloprogramm „Gedanken! Los!“des Kabarettisten René Sydow ist dieser nun mit seinem zweiten Programm unterwegs. Und wieder gibt es ein Buch dazu. René Sydow hat zwar das „Handwerk“ (Film- und Fernsehwirt, arbeitet als Schauspieler und Regisseur) gelernt, trotzdem darf man von einem Naturtalent sprechen. Ob man es hört oder liest, es stellt sich immer die Frage, wie ihm so etwas einfallen konnte. Diese Wort- und Satzverdrehungen, deren ursprünglicher Sinn sich verschiebt, aber die Bedeutung der Aussage vervielfachen. Muss man nun betroffen schlucken? Oder lachen? Welche Schuhe  müsste man sich anziehen? Manchmal passen sie. Man möchte sie aber trotzdem nicht tragen.  Gottseisgelobtgetrommeltundgepfiffen: es gibt ausreichend Passagen, die man sich nicht persönlich zu Herzen nehmen muss. Und auf Andere mit dem Finger zu zeigen, beruhigt doch ungemein.

Kann man sich als unbescholtener Konsument in Anbetracht der elf Preise, die der Kabarettist für „Gedanken! Los!“ bekam, eigentlich erdreisten, eine Rezension zu schreiben? Vor allem nachdem ich nun durch das Buch „galoppiert“ bin (um das Tempo der Wortexplosionen irgendwie mithalten zu können) und mit dem berühmten offenen Mund zurückbleibe. Was war das denn? Wenn man einen wichtigen Toilettengang aufschiebt, weil man einfach weiterlesen muss. Es ist eine Art Zwang, fast wie eine Droge: nur noch einen Satz, nur noch eine Sequenz… muss doch zu schaffen sein! „Warnung vor dem Munde“ – als Warnung durchaus ernst zu nehmen. Und schon im Titel zeigt sich die zu erwartende Wort-Verschnitzung. Anspruchsvolle Satire. Berufskritiker haben sich so wortgewaltig geäußert, dass man sich kaum traut, auch noch seinen Senf dazuzugeben.

Was sagt der Verlag?

„Nein, das Cover ist nicht verdreht. Weil Herr Sydow sich mit seinem neuen Programm an der Warnschildoptik orientiert hatte, haben wir uns nach langer Diskussion für eine konsequente grafische Umsetzung entschieden. Und es nicht bereut. Was für ein wundervolles Buch in schwarz-gelb! Propaganda für eine gute Sache, nämlich für das neue Programm unseres Lieblingskabarettisten.

René Sydow lässt die angespitzte Zunge von der Kette und sticht zu: In brandneuen Texten geht er dem allgegenwärtigen Irrsinn auf den Grund, nimmt sich Minister, Medienmacher und andere Mitglieder des organisierten (V)Erbrechens vor.
Vom Regierungssprecher bis zum Waffenhändler, vom Schönheitschirurgen bis zum eigenen Ich… nichts und niemand bleibt ungeschoren.

Der mehrfach ausgezeichnete Wortakrobat geht in seinen bissigen Texten über die Politik hinaus und hinterfragt unser Weltbild mit schwarzem Humor, Spott und Poesie. ‚Warnung vor dem Munde‘ enthält den gesamten Text seines zweiten Kabarett-Solo-Programmes und noch viel mehr – in Schwarz auf Weiß und teilweise auf CD.“

Der erste Text „Zum Geleit“ ist mitnichten nur eine leichte Einführung ins Programm. Ein rasantes Springen von Minithema zu Minithema folgt. „Am Anfang ist der Sport. Ich schaue Fußball-WM und sehe fast zwei Dutzend Millionäre, die einem Ball hinterherrennen, der pro Stück 129 € kostet, während die Arbeiter in Pakistan, die dieses Wunderwerk zusammennähen, ebenso wie die Trikotschneiderinnen in El Salvador, kaum 146 € im Monat verdienen.“ Fußball kann durchaus Spaß bereiten. Viele haben die WM verfolgt und sich gefreut. Wer denkt da schon an Sklavenarbeit? Das kann man doch meist erfolgreich verdrängen. Und jetzt stößt uns Herr Sydow mit der Nase darauf. An dieselbe mal gefasst: Boykottieren wir deshalb Fußball? Nein. Aber das ist auch nicht der Sinn der Satire. Wir wollen und sollen nur nicht den Blick für das „Dahinter“ verlieren. Ändern dauert etwas länger…

Meinen ersten befreiten Lacher hatte ich, weil es mich nicht persönlich betraf: „Anglizismen haben die Alltagssprache zum Drive-In-Talk gemacht und wenn wir mal ehrlich sind, dann hat der Satz ‚Rahn müsste schießen‘ immer noch mehr Herzen bewegt, mehr Leidenschaft entfacht und sich tiefer ins kollektive Gedächtnis eingegraben als alle Werke von Botho Strauß und Peter Handke zusammen.“ Wunderbar. Ein Satz aus dem Jahr 1954 und aufgeschrieben von jemanden, der zu dieser Zeit noch nicht einmal ansatzweise ein Funkeln im Auge eines Erzeugers war. Ob der Erzeuger höchst selbst schon zugegen war, kann bezweifelt werden.

René Sydow: „Denn am Anfang ist der Ort und dies ist mein Schreibtisch, an dem ich Wortspiele – oder wie ich sie nenne: Sydownyme –, um Sprache einen neuen Sinn und meinem Schreiben einen guten Grund zu geben und es darf auch gern einmal ein Abgrund sein.“ Um einem Nicht-Kenner die Sprache von René Sydow nahe zu bringen, muss man einfach zitieren. Besser beschreiben kann man es nicht.

Jedenfalls sind die mit wenigen Sätzen angerissenen Themen oftmals bitterer Sarkasmus, der in einem breiten Grinsen endet. Im Iran wird das Tanzen in der Öffentlichkeit zu dem Song „Happy“ mit Gefängnis bestraft. Bitter. Die Überlegung, ob man das Mitsingen von Helene Fischers „Atemlos“ nicht auch unter Strafe stellen könnte… ein Grinsen ist unvermeidbar. Das tut nicht weh. Wie verquer muss man denken können und wollen, um solche Verbindungen zu sehen und aneinanderzureihen?
Und so geht es Schlag auf Schlag. Die Übergänge sind rasant. Man hat eine Aussage noch nicht verdaut, folgt schon die nächste. Nichts wird ausgelassen, niemand wird verschont. Banker und Politiker, aber auch jeder von uns selbst darf sich seine Schnittchen aussuchen. Waffenhändler, Regierungssprecher. In viele dieser Rollen schlüpft er selbst. Mal zynisch und sarkastisch, mal beiläufig und nebensächlich. Merkel, Weltuntergang, Jugendarbeitslosigkeit, Erdogan, Platz 16 der Bildungsländer, Topmodel, Afrika, analphabetische Abiturienten, Atommüll, ZDF-Fernsehgarten, Religion, Übergrößen, Frontex, Bruno, Domenique Strauss-Kahn, Laktoseintoleranz. „Ich könnte über Hunde sprechen, aber ich und Hunde? Da prallen Welpen aufeinander.“ Ein Navi fürs Leben, AFD, Markus Lanz. Laubharken als Weiterbildung. „Wenn Sie von Frankfurt 1.000 km in den Süden fliegen, was liegt dann 2.000 km weit im Norden? Richtig, das Gepäck.“ Ja, gelegentlich darf einfach nur gelacht werden. Immer gut verteilt, damit niemand in eine manische Depression versinkt ob der schlechten Welt. Reichensteuer für Milliardäre in Höhe von 1,5 % brächte 58 Milliarden Dollar im Jahr. So manches finanzielle Problem könnte damit gelöst werden. Humankapital, Hinrichtungen, Gott, FDP. René Sydow streut einige Kalauer ein. Die er mit einer verlegenen Quasi-Entschuldigung beendet. Bösartige Albernheiten, über die man allzu gerne lacht.
Eine Breitseite gegen alles? Aber ist das nicht unser irrsinniger Alltag? René Sydow zerstückelt ihn. Sozusagen Geschnetzeltes garniert mit Nonsens. Nachrichten und TV-Abendprogramm. Man wird doch noch mal ko… dürfen?! Unsere Gesellschaft… was ist Gesellschaft? Du und ich und die anderen. Die anderen, die ich auch nicht leiden kann. Alle machen Mist und alle machen mit. „Warnung vor dem Munde“ – ja, seien Sie gewarnt vor diesem Munde. Er beißt!
Immer wieder stellt er die rhetorische Frage: „Wann haben wir Menschen eigentlich aufgehört zu denken?“ Eine andere wiederkehrende Bemerkungen: „Was reg‘ ich mich eigentlich auf?“ Eine Haltung, die man gern annimmt, wenn man an den Fakten sowieso  nichts ändern kann.
Der rasante Parcours von einem Witz zum nächsten – wobei „Witz“ nach humorig-launiger Unterhaltung klingt, die man aber von René Sydow nicht geboten bekommt – spannt das Denken voll ein. Und geht tief in den Kopf hinein.
Wir und unsere Welt. Die Lage ist ernst und hoffnungslos? Der Zuversichtliche meint: „Es lohnt sich. Denn diese Welt ist schön und ich würde sie gerne erhalten wissen, und wenn Sie mich fragen, ob das Experiment Mensch noch ein wenig weitergehen soll, dann würde ich antworten: Doch. Ja. Ich glaube an die Menschen.“
Nach „Warnung vor dem Munde“ folgen Teil 2 und 3: „Verstreute Satiren“ und „Erzählungen“. Darin enthalten ist eine Geschichte namens „Mutabor“ – das Alleswiederzurück-Zauberwort aus „Kalif Storch“. Von der EU angestrebte Privatisierung von Wasser, hausgemachte weltweite Naturkatastrophen – der Markt wird dies kaum richten. Der Mensch ist hier gefragt. Ein Zauberwort reicht allerdings nicht aus. Diese kleine Abhandlung über das Wasser als solches liegt mir schwer im Magen. Andere ernste Themen folgen… In den Erzählungen wird es persönlich. Und ich bin versucht, Biographisches entdecken zu wollen. Vielleicht ist dem so. Und aus dem Grinsen wird ein Lächeln. Nett ist er, der Herr Sydow. Ein Wort(ver)gewaltiger und Satz(ver)dreher. Wer ihn einmal auf der Bühne erlebt hat, wird süchtig nach seinen Auftritten. Denn sein schauspielerisches Talent ist umwerfend. Als Appetithappen ist die CD bestens geeignet.

René Sydow – das besondere Kabarett.

Buch & CD, Klappenbroschur
120 S./50 min.
Edition MundWerk
ISBN: 978-3-95996-008-3

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