Christian von Aster – Der letzte Schattenschnitzer

Christian von Aster, der Meister des Finsterwitzes, erfreute in der Vergangenheit schon durch diverse Schriftwerke, die – logischerweise – voll finsterem Witz sind. Die Erwartungen, was das neue Buch „Der letzte Schattenschnitzer“ – sein erstes Hardcover – bringen wird, war dann auch dementsprechend groß und gespannt. Nun, was dann zu lesen ist, kommt dann doch anders herüber, als gewohnt. Nicht finsterwitzig, sondern eher mit nachdenklich machender Moral. Wie gewohnt findet man sich aber nach wenigen Sätzen inmitten einer exzellent formulierten Fabel.

Der Klappentext:
Von jeher wacht der Rat der Schattensprecher über das Gleichgewicht zwischen Menschen und Schatten. Noch bevor die sagenumwobene Maria Dolores das Licht der Welt erblickt, wächst ein Kind mit einer unglaublichen Begabung heran: Jonas Mandelbrodt. Er ist dazu bestimmt, die Sprache der Schatten zu erlernen. Mithilfe eines fast vergessenen magischen Zaubers ist er die einzige Hoffnung, den Krieg zwischen Mensch und Schatten zu verhindern. Als Jonas und Maria Dolores aufeinandertreffen, beginnt ein phantastisches Schattenspiel um Magie, Intrige und Macht.

Der Schattenschnitzer ist in drei Abschnitte unterteilt: 1. Buch „Kristallisierung“ (Salz / Körper), 2. Buch „Zirkulation“ (Quecksilber / Geist) und 3. Buch „Auflösung“ (Schwefel / Seele). Ähnlicher einer Komposition. Langsam wird der Leser in die Situation eingeführt, temperamentvoll beginnen die Verwicklungen, um dann in einem dramatischen Presto zu enden. Diese Dreiteilung ist dann auch noch in sich dreigeteilt. Der überwiegende Teil wird von einem Betrachter erzählt und spielt zeitlich gesehen im Jetzt. Sodann meldet sich aber auch wiederholt der Schatten des kleinen Jungen Jonas Mandelbrodt mit Informationen und Gedanken zu Wort. Dazwischen finden sich einzelne Kapitel aus „Alchimia Umbrarum“ aus dem Jahr 1604, die dem Leser diverse Sachverhalte aus dem Reich der Schatten näher bringen.

Bevor ich auf die Geschichte eingehen werde, beschäftigen mich die Namen der beiden „Helden“. Der Herr von Aster wird kaum willkürlich und beliebig Namen ausgewählt haben. Der kleine Schattenschnitzer Jonas Mandelbrodt: Jonas oder auch Jona, ein alttestamentarischer Prophet, der sich einer Weisung Gottes widersetzte, vom Wal verschluckt und nach drei Tagen wieder ausgespieen wurde. Benoit Mandelbrot (Stichworte: Fraktal, Apfelmännchen) könnte beim Nachnamen Pate gestanden haben. Aus der Geschichte heraus ergeben die Namensvergleiche durchaus Sinn. Carmen Maria Dolores Hidalgo – sehr klangvoll und bis auf Hidalgo im biblischen Sinn bedeutsam – entspricht der Figur und ihrer Rolle. Doch wer sind die beiden? Jonas erlebt in seiner kurzen Kinderzeit ein prekäres Zuhause in Deutschland und hänselnde Mit-Kinder. Jonas spricht nicht. Jonas kommuniziert gedanklich – mit seinem Hund, seinem eigenen und dessen Schatten. Jonas gilt als Autist. Der geheimnisvolle Schatten lehrt ihn ein für Menschen verbotenes Wissen. Das kleine wenig später geborene mexikanische Mädchen wirft hingegen gar keinen Schatten und wird somit als Ausstellungsobjekt und Pilgerziel ein großes Geschäft für den werten Herrn Papa.
Und so befinden wir uns schon mitten in der Geschichte. Ganz real haben Menschen einen Schatten. Das Licht zeichnet ihn auf den Boden, an die Wände. Wir machen Schattenspiele mit den Fingern und formen Hasen oder Hunde. Wir sprechen von den Gefahren des Schattens, dem Dunkel. Hinter- und untergründig, geheimnisvoll. Schatten kleben förmlich an uns. Doch ohne Sonne und Licht verschmilzt er mit der Dunkelheit. Der Schatten berühmter oder auch berüchtigter Persönlichkeiten wirft sich auf unser Denken und Handeln. Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Manche Menschen führen ein schattenhaftes Dasein. Wie oft wird das Wort „Schatten“ als Synonym verwendet. Synonym für etwas, was nicht greifbar, jedoch spürbar vorhanden ist.

In der Welt des Herrn Christian von Aster im „Der letzte Schattenschnitzer“ sind Schatten kein bloßes Synonym, sondern eher gedankliche Abbilder. Die meisten Schatten begleiten treu und ergeben ihren Herrn ein Leben lang. Aber in der Historie gab es andere Schatten. Selbständig handelnde Schatten. Es gab Gott und Engel und Aufträge und Aufgaben. Und es gab die Kirche und Abtrünnige. Zwischen all diesen gab es ein „Gleichgewicht“, eine Ordnung. Und es gab einen Aufklärer, George Ripley, der die erzwungene, aufgezwungene Ordnung nicht akzeptieren konnte und wollte. Er schuf das Eidolon – einen vollkommen unabhängigen Schatten. Die Übermacht der Ordnungshüter bannte – vorerst – den zerstörerischen Aufklärer und das Eidolon: Fünf Siegel sollten für ewige Zeiten sein mächtiges furchtbares Geheimnis hüten. Soll, muss und kann man Menschen/Wesen so behüten, dass sie niemals gefährliches Wissen kennen lernen? Sicher durchaus beabsichtigt wird hier der Leser zu Überlegungen geführt, die das Woher und Wohin der Menschheit beinhalten. Aber auch das Nachdenken über das Beharrungsvermögen der Menschen wird angeregt. Der Unwillen, Veränderungen zu akzeptieren. Der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung. Und die engen Grenzen für all dieses.

In von Asters Geschichte jedenfalls soll mit der Personifizierung in den beiden Kindern der ruhende Kampf wieder aufgenommen werden und zur Entscheidung gebracht werden. Auf der einen Seite Jonas, der von seinem vielwissenden Schatten geformt, geleitet und geführt wird, um vielleicht irgendwann einmal die Welt der Menschen zu retten – was der Schatten aber auch erst im Verlaufe des Geschehens erkennt. Auf der anderen Seite das mysteriöse, schattenlose Mädchen, in dem der Junge eine Leidensgenossen und Verbündete sieht. Die Schatten haben keine menschliche Konsistenz, aber sehr menschliche Prinzipien. Und so erkennt man in den Schatten der Ältesten, der Ratsmitglieder, von Wächter und Engel sehr klar unsere real existierenden Führer, Politiker, Aufrührer, das Volk wieder. Das weltliche Gleichgewicht ist eh schon ins Wanken geraten. Die Ansiedlung der Geschichte im Heute unterstützt solche Vergleiche durchaus. So vermischen sich Personen und Schatten von Personen, deren Namen wir in der Mythologie und der Geschichte wiederfinden. So verweben sich die vielen einzeln gesponnenen Fäden der Protagonisten an den verschiedensten irdischen Orten der Welt fortschreitend zu einem Gobelin. Erst zum Schluss aber wird das Bild vollständig sichtbar. „Was war Rache, was der Sieg verglichen mit wahrhaftiger Vergebung?“

Diese phantastische Geschichte bietet unwahrscheinlich viele Details. Sowohl über die reale Welt, als auch über die Schattenwelt mit ihren unmöglichen Möglichkeiten. „Der letzte Schattenschnitzer“ unterscheidet sich wohltuend von rein gruseligen Produkten der Fantasy-Autoren-Gilde. Christian von Aster hat eine schriftliche Einladung geschickt, ihm in seine Phantasiewelt zu folgen. Und die gut vierhundert Seiten bergen großartig beschriebene wunderliche Geschehnisse. Geschehnisse um den kleinen Jonas Mandelbrodt.

Es war eine Freude, seine Reise und seine Abenteuer zu begleiten. Und die Welt mal aus einer ganz anderen Perspektive zu betrachten: von unten; als Schatten.

Klett-Cotta / Hobbit Presse
Hardcover
320 Seiten
ISBN: 978-3-608-93917-0

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