Mein Großvater war ein geschichtsbegeisterter Mann. Er konnte sich im Allgemeinen für alle möglichen Dinge begeistern. Als Kind hatte ich geglaubt, es gäbe kein Wissensgebiet, in dem er sich nicht ein wenig auskannte. Dieser Wissensdrang und diese Begeisterung hatten auf mich abgefärbt und so begann ich bereits in meiner Kindheit alles Mögliche über Geschichte und andere Themen wie ein Schwamm aufzusaugen. Zusammen mit meinen Großeltern und Eltern suchte ich zahlreiche Orte der Geschichte in Deutschland und anderen Ländern auf. Mit der Zeit spezialisierte ich mich auf die Bronzezeit; im Hauptsächlichen die Geschichte der Kelten, der sogenannten Germanen, der Völker Skandinaviens zur Wikingerzeit sowie die keltischen und germanischen Religionen und Sagenwelten. Diese Begeisterung führt dazu, dass ich heute noch etliche Bücher und Berichte über Geschichte rezipiere und Orte der Vergangenheit wie ehemalige Siedlungsgebiete, rekonstruierte Bauten aus dieser Zeit und Landstriche, die mit dieser Kultur verbunden sind, aufsuche. Nun wächst in mir der Wunsch, diese Streifzüge und mein Wissen zu teilen und mit der Reihe „Orte der Vergangenheit“ lade ich Dich dazu ein, mich auf meinen Reisen zu begleiten.
Orte der Vergangenheit: Das Opfermoor Vogtei
Wenn man im thüringischen Niederdorla die Hauptstraße verlässt, zwei Mal abbiegt und dabei den schmalen Nebenstraßen folgt, gelangt man auf einen Schotterplatz, der als Parkplatz für ein Museum fungiert. Der Regen prasselte auf das Autodach, als ich am 09.01.2022 auf diesen Parkplatz fuhr. Während ich mir wetterfeste Kleidung überzog, lief die zuvor eingelegte Forndom-CD weiter und es erklang das Lied „Jag vet ett tempel stå“. Dieses berichtet vom einstigen wikingerzeitlichen Tempel in Uppsala/Schweden und den Opferritualen, die dort stattfanden. Und dies passte perfekt zu meinem Ziel.
Ich verließ das Auto und ging quer über den Platz zu einem Holzhaus. Davor stand ein Schild, das mein Ziel benannte: Opfermoor Vogtei. Das Opfermoor liegt direkt in der Mitte des heutigen Deutschlands in Niederdorla, Ortsteil Vogtei. Dieses Gebiet blickt auf eine sehr lange Siedlungsgeschichte zurück. Hier bauten einst die Kelten und später der Germanenstamm der Hermunduren ihre mit Stroh bedeckten Gruben- und Langhäuser, betrieben Ackerbau, jagten und opferten in einem markanten See und an dessen moorigen Ufern ihren Gottheiten. Das Areal blickt somit auf eine jahrhundertelange Nutzung zurück. Es konnte eine Opfertätigkeit beginnend in der Hallstattzeit um 600 vor unserer Zeit bis ins Jahr 1000 unserer Zeit nachgewiesen werden. Dieser besondere Ort wurde 1957 beim Torfstechen entdeckt. Es handelt sich um den besterhaltenen Fundkomplex dieser Art aus der Laténe- und römischen Kaiserzeit in Mitteleuropa. Anfangs wurden dort aus Stein Brandaltäre errichtet. Später opferte man heute namenlosen Pfahlgöttern. Diese wurden von Altären aus Weidengeflecht und Erde abgelöst. Einige dieser Altäre hatten die Form von Schiffen, was auf einen skandinavischen Einfluss hindeuten kann. Oftmals standen in den Heiligtümern Pfähle, auf die die Schädel der geopferten Tiere befestigt wurden. In einem Altarkomplex gab es eine in Stein gefasste Quelle. Und in einer späteren Phase wurde sogar ein Umlauftempel errichtet, unter dessen Altar eine geopferte Priesterin beigesetzt wurde. Die Funde zeigten, dass neben Lebensmitteln geopferte Tiere und Menschen an den Pfahlgottheiten und Altären für die Götter niedergelegt wurden. Vereinzelt umfassten die Opfergaben auch Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs. Selbst ein Schwert wurde gefunden.
Vom Museumsbau, in dem die Dauerausstellung all dies zu berichten weiß, führt ein Pfad am Denkmal für die Entdeckung der Mitte Deutschlands vorbei zum Opfermoorareal. Dort gelangt man durch ein Tor auf eine Fläche mit einigen rekonstruierten Grubenhäusern und einem Langhaus. Als ich das Gelände betrat, hatte der Regen etwas nachgelassen, doch die Kälte zog noch vom feuchten Boden hoch. In den Bauten aus Weidengeflecht, Lehm und Stroh war es erstaunlich trocken und etwas wärmer als draußen. Doch trotz flackernder Feuer muss es in der Vergangenheit in solchen Wohnhäusern bei solch winterlichem Wetter stets kühl gewesen sein. Ich durchstreifte das weite Gelände, las mir die Informationstafeln zu den Häusern, dem Kräutergarten und den umstehenden Bäumen durch und folgte dem ausgeschilderten Weg an einem auf Stangen errichtetem Kornspeicher vorbei in das eigentliche Areal des Opfermoores, wo sich Rekonstruktionen von elf Heiligtümern aus sieben Opferperioden befinden.
Ich war fast alleine. Auf dem See schwammen einige Enten und Schwäne und in den Bäumen und im Schilf verbargen sich einige Vögel und Tiere. Dennoch war es sehr still. Das graue Wetter unterstützte diese ruhige, fast schon ehrfurchtsgebietende Atmosphäre. Ich verharrte vor dem ersten Heiligtum, bei dem es sich um einen Steinaltar der späten Hallstattzeit handelte. Dieser war von einem runden Wall umgeben und darin befand sich ebenfalls eine Stele, die das Symbol und der Sitz einer Gottheit war und an der unter anderem Ziegen geopfert wurden. Anschließend kam ich zu einem jüngeren Heiligtum, das aus drei Pfahlgottheiten bestand. Diese stammten aus der mittleren Laténezeit und ihnen wurden Ziegen, Rinder, Pferde und Teile von Menschen geopfert. Die Pfähle mit ihren gespreizten Astgabelungen, die wie Beine wirken, und ihren knubbeligen Astköpfen überragten mich um einiges.
Es ist ein schwer zu beschreibendes Gefühl, an solch einem Ort zu verweilen. Ich fühlte mich, als sei ich in der Zeit zurückgereist. All die Dinge, die ich in historischen und archäologischen Berichten gelesen hatte, schienen lebendig und wirkten jünger und weniger lange vergangen. Selbst ohne historischen oder gar religiösen Zugang zu jener Zeit aus der diese Altäre, Pfahlgottheiten und im Allgemeinen das einst heilige Areal stammen, hat der Ort eine besondere Wirkung. Wenn man wiederholt von den Tier- und Menschenopferungen liest, verfällt man in einen entrückten Zustand. Man erahnt, welche Wirkung dies auf die einst dort ansässigen Menschen gehabt haben muss. Diese opferten ihren Göttern für eine gute Aussaat, gute Ernten, persönlichen Schutz. Sie versprachen sich Fruchtbarkeit für das Vieh und für sich selbst. Menschenopfer sind nachweislich selten vorgenommen worden. Nur in Zeiten äußerster Not. Dies galt oftmals bei besonders schlimmen Naturkatastrophen oder Krieg. Ein jedes Ritual wurde wohl groß begangen. Lieder, Musik auf Hörnern, Trommeln und anderen Instrumenten gespielt, Feuer, Tänze und Beschwörungsformeln bildeten wahrscheinlich den Rahmen der Niederlegungen und kultischen Handlungen. Bestimmte Areale durften nur von Priesterinnen und Priestern betreten werden. Und am Ende dieser Zeremonie blieben niedergelegte Gegenstände, Früchte, Tierschädel und andere Knochen sowie Blut am heiligen Ort zurück.
Auch heute liegen auf den Altären, auf der grasbedeckten Erde innerhalb des Weidengeflechts wie Kieferknochen, Wirbel oder Beinknochen von Tieren. An einigen Pfählen sind Rinder- und Pferdeschädel befestigt, was einen Eindruck vermittelt, wie es einst gewesen sein könnte. Natürlich lässt sich dies teils aus Funden rekonstruieren und aus einigen Zeitdokumenten von antiken Geschichtsschreibern ableiten. Doch die Kelten und die germanischen Stämme waren ein Volk, das erst sehr spät im Zuge der Christianisierung anfing, seine eigene Geschichte niederzuschreiben. Und daher ist vieles in Vergessenheit geraten und lässt sich nicht vollständig nachvollziehen. Gerade die Handlungen und rituellen Gebräuche betreffend. Doch das Opfermoor Vogtei vermag dank der anschaulichen und historisch korrekten Rekonstruktionen einen Eindruck davon zu erwecken, was vor vielen tausenden Jahren an jenem besonderen Ort gewesen ist.
Nach vielen Stunden des Verweilens kehrte ich im anhaltenden Nieselregen über matschigen Wegen zum Schotterparkplatz zurück. Ich streifte meine durchnässte Oberbekleidung ab und wärmte mich an der Autoheizung. Was während des zweistündigen Heimweges blieb, waren die lebhaften Erinnerungen an diesen besonderen Ort, den ich sonst nur aus Erwähnungen in Geschichtsbüchern kannte.
Für alle Interessierten gibt es hier den Link zur Webseite des Museums am Opfermoor Vogtei.