Wenn ich die Begriffe „Vikings“, „Amon Amarth“, „Skáld“, „Wickie“ sowie „Hägar“ nenne, so entstehen verschiedene Bilder vor dem inneren Auge. Ein jedes zeichnet einen Eindruck – mehr oder weniger homogen – zu einem vermeintlichen Volksstamm, der einst Europa, die britischen Inseln sowie Russland und die arabische Welt in Atem hielt. Doch wie sehr decken sich diese modernen Vorstellungen von den zotteligen Barbaren, die auf ihren Langschiffen zu abenteuerlichen Reisen aufbrachen und ihre Spuren in Form von Runensteinen und Hügelgräbern hinterließen?
In den letzten Jahrzehnten erschienen einige Sachbücher zu den Wikingern; das eine mehr, das andere weniger lesenswert. Ich selbst bin kein Archäologe und kann diese nur aus der Sicht des Laien, der sich über längere Zeit im Selbststudium eingehend mit der Thematik beschäftigt, beurteilen. Dabei las ich Werke aus der DDR, BRD und aus modernen Staaten. Und es zeichnet sich ab, dass gerade in den letzten Jahren durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Archäologen, Historikern und Naturwissenschaftlern starke Fortschritte in der Forschung gemacht wurden.
Ebenfalls eine Zusammenarbeit verschiedener Fachleute stellt das 2019 im Propyläen Verlag erschienene Sachbuch „Die Wikinger – Entdecker und Eroberer“ dar. Herausgegeben wurde dies von Jörn Staecker und Matthias Toplak. Ersterer war Professor an verschiedenen renommierten Universitäten und eine Koryphäe der Wikingerforschung. Er entwarf ein Rohmanuskript zu dem vorliegenden Buch, konnte dies jedoch aus Krankheitsgründen und seinem frühen Ableben nicht mehr fertigstellen. Daher übernahm Matthias Toplak, welcher bei Staecker promovierte und mittlerweile selbst Altnordist und Mittelalterarchäologe ist, die Aufgabe, dieses Werk zu verwirklichen. Unter seiner Leitung taten sich 25 ArchäologInnen und ForscherInnen zusammen und schrieben Beiträge zu ihren Sachgebieten. Heraus kam ein Buch, das die aktuellsten Erkenntnisse der Forschung zusammenträgt und strittige Thesen diskutiert.
Zu Beginn wird die Wikingerzeit aus archäologischer Sicht in der Geschichte verortet. Es wird herausgestellt, dass es „Die Wikinger“ nicht gab. Es gab im skandinavischen Raum siedelnde Menschen, die bestimmte kulturelle Merkmale verbanden. Ein Bruchteil dieser ging auf Raubzüge und Reisen, dies waren die sogenannten Wikinger. Folgend beschäftigt sich das Buch mit der Heimat der Wikinger und den gesellschaftlichen Strukturen der dort Ansässigen. Was bei diesen Themen bereits auffällt, ist der Versuch eines direkten Vergleichs der damaligen Gesellschaftsformen und Lebensweise mit der heutigen. So werden geschlechtsspezifische Rollenbilder, die politische Ordnung und der interkulturelle Austausch der Skandinavier mit anderen Völkern herausgearbeitet, ohne jedoch zu übergewichtig auszufallen. Gerade in den Kapiteln „Handel und Expansion“ sowie „Der Weg in den Osten“ wird auf die Ursachen dieser Reisen und der Auswanderung eingegangen. Besonders spannend und viele neue Erkenntnisse aufweisend ist das zuletzt genannte Kapitel. Durch die in den letzten Jahren durchgeführten Analysen von Strontiumwerten von Knochen einst ausgegrabener Verstorbener lässt sich die Herkunft der Personen mittlerweile sehr genau bestimmen. So kam unter anderen heraus, dass einige Gräber in denen vermeintlich Slawen beigesetzt wurden, Skandinavier ihre letzte Ruhe fanden. Nicht nur diese Erkenntnisse führten dazu, dass bestehende Thesen verifiziert und falsifiziert wurden, sondern dass auch ganz neue aufgestellt werden mussten. Im Kapitel „Religion und Mythologie“ findet in den Beiträgen der verschiedenen AutorInnen eine rege Diskussion über die Vertrauenswürdigkeit und Ursprünglichkeit einst als wahr angesehener literarischer Quellen statt. Generell zeichnet sich das Buch durch eine sehr lebhafte Diskussion über einst aufgestellte Behauptungen und ihren Wert nach neuesten Erkenntnissen aus. Man hat den Eindruck, man würde verschiedenen Vorlesungen beiwohnen. Doch neben all der (Neu)Wertung entsteht Kapitel für Kapitel ein immer detaillierteres und umfassenderes Bild der Epoche und Menschen der Wikingerzeit. Nach und nach vervollständigt sich ein aus den Teilen archäologische Fundstücke, literarische Quellen, Runensteine und Erkenntnisse aus naturwissenschaftlichen Analysen bestehendes Puzzle, bis im letzten Kapitel versucht wird, aufzudecken, warum uns gerade die Wikinger in den letzten Jahren in verschiedenster Form beschäftigen und für viele sogar ein Identifikationsbild in der von Umbrüchen und Schnelllebigkeit geprägten Moderne bieten. Was uns wieder zu den eingangs genannten Begriffen führt, zu denen Sie, werte Lesende, bestimmt auch gleich Assoziationen gezogen haben.
Abschließend möchte ich die Lektüre des Buches allen Geschichtsinteressierten ans Herz legen. Dieses 480 Seiten starke Werk liest sich sehr unterhaltsam und überzeugt durch zahlreiche Illustrationen, die sehr passend in den Text integriert wurden, so dass häufiges Vor- und Zurückblättern, welches man aus anderen Sachbüchern kennt, vermieden wird. So umfangreich und unterhaltsam aufgearbeitet finden sich neueste Erkenntnisse selten. Eine Lektüre sei allen an der Thematik Neuinteressierten nahegelegt, da nicht nur auf Neues sondern auch auf bestehendes Wissen über diese spannende Geschichtsepoche eingegangen wird. Außerdem sind die Hauptkapitel in kürzere Unterkapitel gegliedert, welches das Lesen sehr kurzweilig gestaltet. Und gerade der mitunter vorgenommene Vergleich zu aktuellen Geschehnissen und Entwicklungen macht das vermittelte Wissen greifbarer.
Die Wikinger: Entdecker und Eroberer
Jörn Staecker, Matthias Toplak (Herausgeber)
Propyläen, Berlin 2019
480 Seiten, zahlreiche Illustrationen
ISBN 978-3-549-07648-4
32,00 € (D), 32,90 € (A)