„Bis zu einem gewissen Grade selbstlos sollte man schon aus Selbstsucht sein.“ (George Orwell 1903-1950)
Orwells Werk „1984“ war zur Zeit seiner Erschaffung Utopie. Diese Utopie berichtet von einer besonderen Form der Gesellschaft, der Gesellschaft totaler Kontrolle. Obwohl ich sonst nichts von Science-Fiction halte, habe ich dieses Buch verschlungen. Ich habe es verschlungen, nicht nur, weil es, wie so viele Bücher gut geschrieben ist. „1984“ ist auch deshalb so gut, weil es Postskriptum mittlerweile erschreckend realitätsnah ist. Die ständige Überwachung, von der berichtet wird, sie ist nicht mehr Utopie. Und das ist das wirklich Schlimme. Und, dass der Protagonist der Geschichte am Ende doch vor dem System kapituliert.
Die Gesellschaft, in welcher wir leben, prägt uns, ohne das wir uns davor bewahren können. Denn unser täglicher Umgang mit Menschen hat sich entwickelt. Er fing an mit dem Leben in Höhlen und setzte sich über andere Gesellschaftsformen bis heute fort. Es ist fest in unseren Genen verankert eine Gemeinschaft zu bilden. Eine Gemeinschaft, in der sich jeder um jeden sorgt. Dies sicherte das Überleben der Menschheit. Doch noch etwas ist in unserem Erbgut fest verankert: der Selbsterhaltungstrieb. Denn um zu überleben muss man sich ab und zu einfach mal nur um sich selbst scheren. Das war damals, in grauer Vorzeit so. Damals als unsere Vorfahren noch nicht so altklug waren, noch nicht so viel entdeckt hatten, so viel wussten und erlebt hatten (und deshalb dachten, sie können sich über andere Lebewesen und ihre Vorfahren auf Grund ihrer „Intelligenz“ erheben). Doch es gab ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Team und Einzelkämpfer. Diese Wechselwirkung war kein Paradoxon. Bis jetzt? Ist es heutzutage so, dass Selbstlosigkeit und Selbstsucht Hand in Hand miteinander spazieren gehen?
Ich lebe im Kapitalismus. Ich weiß, dass ich mich um mich selbst kümmern muss, das Beste aus mir rausholen muss, um in dieser Gesellschaft nicht unterzugehen. Denn auf der Überholspur bleibt kaum Zeit zu verweilen und sich nach Liegengebliebenen umzusehen, geschweige denn, ihnen Hilfe anzubieten. In dem jeder nach seinem Glück strebt, verliert man leider oft andere Menschen aus dem Auge. Denn egal, was der Einzelne als sein Glück definiert, er strebt danach, es aus dem Traum zu holen und Wirklichkeit werden zu lassen. Ich weiß, dass es so ist. Ich gebe mich nicht der Illusion hin, dass der Großteil der grauen Masse mir helfen würde, wenn ich gestolpert wäre. Ich kenne es nicht anders. Den Sozialismus habe ich nicht bewusst erlebt. Auf Erinnerung meiner Mitmenschen gebe ich in dieser Hinsicht nicht viel, denn sie ist getrübt von Subjektivität. Somit kann ich also mit Fug und Recht behaupten ein Kind des Kapitalismus zu sein. Der Kapitalismus, der Kampf um das Überleben, ist meine Vergangenheit und meine Gegenwart.
Doch welches Verhalten -Egoismus oder Altruismus- ist anderen und auch mir selbst gegenüber gerecht? Diese Gerechtigkeit die ich anspreche, konzentriert sich vor allem auf das Verfolgen und Erfüllen des persönlichen Glückes. Wahre Gerechtigkeit bedeutet für mich, jedem Menschen die Möglichkeit zu bieten, sein Glück Realität werden zu lassen. Diese Ansicht mag naiv erscheinen. Wenn man es so will, bin ich ein naiver Mensch. Ich bin Idealist und in gewisser Weise Misanthrop in einem. Ich bin nicht religiös, sondern lehne diese Form aus Prinzip ab, da ich Religionen als Verdummung und geistige In-Schach-Haltung von Menschen auffasse. Ich kann nicht einmal mehr von mir behaupten, dass ich an etwas glaube. Es mag traurig klingen, aber diese Zeiten sind vorbei. Denn auf meinem Weg hat sich mein Glaube in der Weite verloren. Trotzdem trage ich in meinem Herzen eines mit mir: Hoffnung. Die letzte, alles begleitende Hoffnung, auf dass eines Tages für einen jeden von uns ein Stern am Firmament hell und klar funkelt; sich alles schlechte, was passierte, im Sinn für nichtig erklärt. Und ich hege trotz allem was mir passiert ist, die Hoffnung auf das Gute im Menschen. Auch wenn ich gleichzeitig der Ansicht bin, dass der Mensch diese Gutmütigkeit nicht verdient hat. Die Gesellschaft, alles was ich an schlechtem erlebt habe, hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Ich mag die Menschheit, wie ich sie kennen gelernt habe, nicht. Sie ist egoistisch, egozentrisch und all meine Ideale werden mit Füßen getrampelt. Unsere Gesellschaft ist auf Macht, Konsum, Ruhm und Statussymbole ausgelegt. Es ist nötig mit harten Bandagen zu kämpfen um nach oben zu gelangen. Wer auf der Strecke bleibt, tja, der bleibt halt liegen.
Als ich begann, mich mit diesem Thema zu beschäftigen, war ich der Ansicht, dass dies der richtige Weg sei. Ich bin es gewohnt, dass so gehandelt wird. Gewohnheit ist etwas schlechtes, denn sie hindert uns zusammen mit der Faulheit daran, Defizite auszumerzen. Es ist bequem mit dem Strom zu schwimmen. Die Freiheit und Unabhängigkeit ist ein ewiger Kampf. Da ich lernen musste, mich primär um mich selbst zu kümmern, vertrat ich bis vor kurzem die Meinung, dass dies die gerechteste Variante sei. Denn in dem sich jeder um sich selbst kümmern muss, ist auch jeder für sein eigenes Glück und auch Unglück verantwortlich. Denn in dem sich jeder um sich selbst kümmert, ist an jeden gedacht. Doch ich habe eingesehen, dass mich mein Egoismus und meine schlechten Erfahrungen zu dieser Blickweise führten.
In Auseinandersetzung mit diesem Umdenken kamen mir Fragen, die ich bis jetzt nicht bedachte. Fragen, die ich mir ganz persönlich in diesem Zusammenhang stellen muss. Denn ich halte nicht nur mit dem gesellschaftlichen System, in welchem ich lebe, sondern auch mit mir selbst Gericht. Einfach weil ich dieses System nicht zwingend annehmen muss. Sondern weil ich stagniert bin in meiner moralischen Entwicklung und ich den Nährboden dafür suchen muss. Nur wenn man die Ursache kennt, kann man das Problem bekämpfen.
Die erste Frage die sich mir stellte, war, wann dieser gesunde, natürliche Egoismus aufhört hat gesund zu sein, sondern sich veränderte zu etwas Übersteigertem, Dringendem, Morbiden. Bei mir selbst kann ich diesen Zeitpunkt ziemlich genau bestimmen. Er war da, als ich ein neues Leben begann und bereits am Anfang alles schief lief. Doch bei der Menschheit gestaltet sich die Datierung zu einem wirklichen Problem. Irgendwo in der technischen und geistigen Entwicklung muss diese Gier gewachsen sein. Denn Egoismus in seiner Reinform ist blanke Gier. Die Gier nach mehr. Die Gier nach „höher, schneller, weiter“, die so viele von uns treibt. Sie muss sich irgendwann herauskristallisiert haben, gestützt von der Gesellschaft. Profitdenken und das Messen, an dem was wir haben, führten wohl dazu. Doch kann man aus dieser Schlussfolgerung heraus nun davon ausgehen, dass das Gute im Menschen langsam aber stetig abstirbt und das Schlechte siegen wird?
Es wäre zu simpel, die Menschen auf diese Entwicklung zu reduzieren. Denn dann würden all die guten Taten vergessen werden. Diese guten Taten streben nicht nach Anerkennung, aber sie verdienen sie. Und gerade, dass es nötig ist, sie auszuzeichnen, zeigt, wie kostbar und leider auch selten sie geworden sind. Doch wie kommt es, dass ein Mann, der gerade dem brennenden Inferno entrann, zurück in das Haus stürzt, um ein hilfloses Kind zu retten? Ich bin davon überzeugt, dass dieser Mann nicht eine Minute zögert, nur um abzuwägen, wie viel bei dieser Rettung für ihn rausspringt. Er rennt einfach und rettet. Er tut es nicht aus Mitleid, sondern aus Mitgefühl. Eine Gabe, die wir uns bewahren sollten. Denn im Gegensatz zu Mitleid ist Mitgefühl etwas unheimlich Gutes. Mitgefühl ist Verständnis, ein Gefühl der Zuneigung und Verbundenheit, dass man einem Menschen auf Grund seines Lebensweges, einer momentanen Situation oder ähnlichem, entgegen bringt. Mitleid ist eine übersteigerte Form von Mitgefühl, die aufgezwungen, deprimierend und meist nicht erwünscht ist. Mitgefühl hilft uns wieder ein Stück menschlicher zu werden, fühlender, jemand zu werden, der für einen anderen Menschen da ist. Doch trotz aller hervorgetretener, erschreckender Dekadenz der Menschlichkeit (in der kapitalistischen Welt) habe ich tatsächlich etwas gefunden, was dieser Dekadenz (bis jetzt) entging. Es ist die schönste Sache der Welt. Nein, nicht Sex, sondern die Liebe. Richtige Liebe. Liebe, die entspringt aus dem Willen, jemand anderen zu lieben, einfach nur um ihn zu lieben. Egal, ob dieser Mensch es von sozialen, juristischen oder anderen Gesichtspunkten aus verdient hat. Liebe, die Fehler nicht übersieht, sondern sie einbezieht. Liebe aus ihrer selbst willen. Diese Liebe bedenkt nicht, welche Vorteile derjenige hat, wenn er liebt. Sie ist einfach da. Sie befähigt selbst den knauserigsten, egoistischsten Menschen seine Einstellung zu ändern. Sie muss es nicht, aber sie kann es. Diese Liebe ist frei von Egoismus.
Im Blick über den Tellerrand der Welt, in der ich lebe, habe ich noch etwas Schönes gefunden. Etwas erschreckend Schönes. Fast zu schön, um wahr zu sein. Und doch, ist es ein Teil der Welt. Nicht meiner, aber unser aller Welt. Dieses Schöne bezieht sich nicht auf einen einzelnen Aspekt einer Gesellschaft wie die Liebe, sondern auf eine ganze Gesellschaft. Somit ist bewiesen, jedenfalls für mich, dass es an sich anders geht.
Mein Beispiel ist das wohl schillerndste, dass es bei diesem Thema geben kann: der Buddhismus. Für mich ist der Buddhismus keine Religion im herkömmlichen Sinne. Diese Art des Glaubens unterscheidet sich grundlegend von anderen Religion. Wenn ich mir das Christentum in seiner Gesamtheit aus Geschichte, Dogmen und Gläubigen ansehen, kann ich mich nicht entscheiden, ob diese Menschen unglaublich dumm, verblendet oder verzweifelt sind. Glaube ist nichts Negatives. Im Gegenteil, er bietet Halt. Aber gerade das Christentum hat für mich vor allem Nachteile.
Der Buddhismus unterscheidet sich ungemein davon. Ich kann nicht sagen, dass ich mich wirklich gut bei diesem Thema auskenne, aber es fasziniert mich. Denn diese Menschen sind so friedfertig, so freundlich, so wenig egoistisch. Und vor allem sind sie tolerant. Sie tun nicht so, als seien sie diejenigen, die der einzig wahren Religion folgen. Sie schenken so viel Weisheit und verlangen dafür keine Gegenleistung. Sie praktizieren so viel Nächstenliebe, ohne diese in die gleiche seltsame Verbindung wie das Christentum zu bringen. Denn dort hat diese einen für mich schalen Beigeschmack. Ich werde, dass Gefühl nicht los, dass sich in christlicher Religion gerade in der Nächstenliebe der größte Egoismus versteckt hält.
Diese Ablösung von allem Weltlichen, führt zur Ablösung vom Egoismus. Denn das Begehren und die nur unbeständige Befriedigung werden als Ursache des Leidens aufgefasst und nur durch Ablösung davon können die Buddhisten sich vom Leiden befreien. Ich kann es immer noch nicht glauben, wie selbstlos Menschen sein können. Es wirkt so unmenschlich, da ich gerade den Egoismus als menschlich einstufe. Doch diese Menschen leben in einer Welt, die sie sich so geschaffen haben. Sie sind in diesem „System“ groß geworden und haben es daher auch verinnerlicht. Somit ist der Buddhismus die gerechteste Variante ein Leben zu führen. Gerade die Hinwendung von Menschen aus „meiner Welt“ zeigt, dass der Wunsch nach einem spirituellen Leben da ist. Der Wunsch nach Glück, Frieden und Selbstlosigkeit. Eine solche Welt wünsche ich mir tief in meinem Herzen. Nicht, weil wir Menschen sie uneingeschränkt verdient hätten. Ich wünsche sie, weil sie die beste Möglichkeit für die Zukunft bildet. Eine Zukunft, in der Menschen aus Fehlern der Vergangenheit lernen und sie nicht wieder begehen.
Und vielleicht hat selbst der weitsichtige und kluge George Orwell einen Trugschluss verfolgt, als er meinte, dass Selbstlosigkeit nur auf Basis der Selbstsucht existieren kann. Vielleicht ist eine symbiotische Beziehung von Egoismus und „Nächstenliebe“ kein Muss.
Ich gehe davon aus, dass in jedem Mensch das Ideal einer besseren Welt existiert, auch wenn es sich irgendwo versteckt hält, um nicht belächelt und verstoßen zu werden. Vielleicht ziehen wir mit uns selbst zu wenig ins Gericht. Vielleicht hoffen zu wenige auf eine Zukunft, die sich von der Vergangenheit absetzt. Gerade die Liebe ist ein guter Anfang für eine Welt mit mehr Mitgefühl und Selbstlosigkeit. Doch warum fangen wir nicht in der Gegenwart an, im Hinblick auf unsere Zukunft, eine verantwortungsvolle Vergangenheit zu schaffen? Warum ist die Liebe in unserer westlichen Gesellschaft die einzige Sache, die immer noch vom Egoismus frei ist?