Oberer Totpunkt – Desiderat

Desiderat: Der Wunsch nach etwas, das fehlt? So könnte kann man den Titel verstehen, sobald man die Texte des Albums hört.

Das Duo – Bettina Bormann und Michael Krüger – aus Hamburg sticht aus der Masse heraus. Das erste oberflächliche Hinhören scheint „normale“ düstere Beats zu offenbaren. Doch gesellt sich zum harten Rhythmus die kühle, disziplinierte Alt-Stimme von Bettina Bormann. Sprechgesang. Jedes Wort ist akustisch zu verstehen. Und jedes Wort ist von Bedeutung. Doch wie werden Texte allgemein bewertet? Die Worte toll oder klasse sind unpassend. So einfach sollte man es sich nicht mit DIESEN Texten machen. Hinhören und nachdenken ist angesagt!

Als die Klänge aus den Lautsprechern dringen, stehe ich sozusagen „zwischen den Stühlen“. Einerseits verlockt der Rhythmus zum Wippen und Zappeln und Hüpfen. Andererseits tragen die Worte einen Schleier aus müder Erkenntnis, einem allgemeinen Unbehagen im Hier und Jetzt. Es ist ein Schwanken zwischen Auflehnung und Aufgabe. Kann man wippen und nachdenken gleichzeitig?

Der Titel „Spiegel im Käfig“ ist hierfür ein Beispiel. „Ich häng den Spiegel ins Zimmer – wie ein Wellensittich – dann bin ich nicht mehr allein.“ Die Umschreibung für Einsamkeit, die man fühlt, inmitten vieler „netter“ Menschen. „Ich fürchte mich… vor allen Menschen“ – kommt einem das nicht bekannt vor? Konsterniert schaut man auf das Treiben der Mit-Menschheit und fühlt sich irgendwie fehl am Platz. Diese Frage stelle ich mir oft… gehören wir wirklich derselben Art an und befinden wir uns alle zeitgleich auf dem gleichen Planeten?

„Es war immer so“ – genau: das war, ist und bleibt so. Das haben wir schon immer so gemacht. Da muss man nichts ändern. Das mag gelegentlich gut und richtig sein. Aber wenn man nur noch im Beharren kreist, kommt nichts Neues zustande. Auch im Leben nicht.

„Alle lügen“ klingt nicht nur provokant, sondern ist es auch. Und dabei geht es einmal nicht um Banker oder Politiker. Es geht um mich, um Dich, um uns alle. Um all die schönen und netten Höflichkeiten. „Das macht doch nichts.“ Doch! Das macht was. Das stört mich. Aber ich spreche es nicht aus. Stattdessen: „Das macht doch nichts.“ Um des friedlichen Zusammenlebens willen bin ich höflich und freundlich und nett. Es sind trotzdem Lügen. Die ich gekonnt und dreist verteile. Ohne Gewissensbisse. Mal drüber nachdenken…

Wenn niemand mehr appelliert oder protestiert, wenn niemand mehr etwas sagt: dann „Sei auf der Hut“. Wenn alle nur noch JA sagen, mit dem Kopf zustimmend nicken und Lethargie alles beherrscht „Sei auf der Hut“. Das kann man nun deuten, wie man will. Ob im persönlichen oder im öffentlichen Bereich. „Wenn Stille sich breit macht“ ist Gefahr im Verzug.

In mehreren Sprachen eingestreut in den Song „Langfristig gesehen sind wir alle tot“ diese Worte. Wir wollen vergessen, nicht mehr denken, vergehen – das ist schon fast wie tot.

Und „Das Leben wartet nicht auf dich“ mit der Erkenntnis: lebe, jetzt und hier und heute. Das Leben wartet nicht, die Zeit verrinnt. Was du heute nicht tust, tust du wahrscheinlich niemals. Die Einmaligkeit meiner Existenz in der verrinnenden Zeit – nutze den Tag! Ein leichtes Unbehagen stellt sich ein. Was mache ich mit meinem Leben? Die Desiderat-Texte stellen Denk- und Verhaltensweisen dar, die mir so fremd nun (leider) nicht sind. Anders aber ist es auch ein kleiner Anschub, genau dieses zu hinterfragen. „Oberer Totpunkt“ sind niemals „leichte Kost“. Bettina Bormann findet nachdenkliche und klare Worte. Und gerade durch die kühle zurückhaltende Sprechweise provoziert sie beim Zuhörer starke Emotionen.

Mit einigen Gast-Stimmen unterstützt ist „Desiderat“ ein Leckerbissen vor allem für den Geist. Wohl bekomm´s!

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