Es gibt schon seltsame Verhaltensweisen. Meine beispielsweise. Vor einigen Tagen saß ich im Grünen Salon der Volksbühne in Berlin und lauschte genau den Texten, die ich anschließend auch noch gelesen habe und jetzt beim Schreiben nebenbei höre (einige Texte des Buchs wurden von René Sydow höchstpersönlich für eine CD eingesprochen). Seltsam. Aber eineswegs langweilig. Im Gegenteil. Im Rausch der Geschwindigkeit des Vortrages sprang ich von einem Wortkonglomerat mit Pointe zum nächsten. Sacken lassen und Weiterdenken… keine Zeit, keine Zeit. „Deutsche Wortarbeit“ ist unter Slam-Poetry (publikumsbezogene und live vorgetragene Literatur)einzuordnen. Hart, bissig bis böse, aktuell, analytisch und anspruchsvoll. Nun kann ich mich in die Wortarbeit versenken und den frechen Satzverbindungen nachhängen. Sätze fangen an und erhalten einen unerwarteten Schluss. Der Sinn verdreht sich und schon stockt mir fast der Atem. Jonglieren mit Satzfetzen. Wie ungezogen sich dieser René Sydow doch ausdrückt! Wohin mit dem Atommüll? Wohin mit dem Atommüll? Versenken? Aufarbeiten? Die Politik findet seit gefühlten Ewigkeiten keine Entscheidung. Warum tun sich die Politiker mit dem Recycling nur so schwer, kennen sie sich doch mit wiederverwerteten alten Flaschen (in Brüssel findet man einige von ihnen) bestens aus? Das sind René Sydows unverschlüsselte Worte. Böse Worte. Wahre Worte. Oder auch „Alle Macht geht vom Volke aus – aber wo geht sie hin?“. Herr Sydow verschont Nichts und Niemanden. Namen fallen und werden gefällt. Ob es „unser aller“ Angie ist oder ein grenzdebiles Busenwunder – meine Reaktion schwankt zwischen atemlosen Lachen und Schreckstarre hin und her. Ich bin begeistert. Gesellschaft, Politik, Bildung. Oder die Berliner Illusion eines Flughafens. Umgangssprache, Fernsehsprache… semantische Paralympics – Deutsch für Dummis. Beim Lesen habe ich ausreichend Zeit, mich nach hinten zu werfen und laut zu kichern. Es wurde Pferdefleisch in deutschem Beef gefunden. DER Aufreger. Aber dass bei Berlusconi menschliches Resthirn gefunden wurde, wunderte Niemanden.
Der Klappentext:
„Dies ist eine Bestandsaufnahme. Sie vereint Satiren, Sprechtexte, Gedichte und Erzählungen. Einige davon sind viele Male auf Bühnen gelesen worden, andere haben auf die Stille eines Lesers gewartet. Einiges bezieht sich auf die Tagespolitik der Jahre 2012/2013, anderes ist zeitlos. Was biographisch klingt, ist in der Regel geflunkert, nur das Unwahrscheinlichste ist tatsächlich passiert. Was lustig anmutet, hat einen ernsten Hintergrund und was zornig scheint, ist Satire.“
Und René Sydow meint dazu ergänzend: „Dieses Buch ist eine Einladung zum Lesen – gerne auch laut in U-Bahnen und Zügen, zum Diskutieren – von mir aus auch mit mir, wenn es nicht zu spät am Abend ist, und vor allem zum Mit- und Gegendenken.“
In der U-Bahn lesen… Das wäre wohl – gelinde gesagt – Perlen vor die Säue werfen. Gut, gut, es trifft nicht auf alle zu. Aber jahrzehntelanges Benutzen öffentlicher Nahverkehrsmittel konnte in mir nicht die Überzeugung hervorbringen, dass es sich bei den Mitfahrenden um eine intelligente Spezies handelt. Stilles Lesen und Schmunzeln ist anzuraten.
Sollte ich jetzt Lieblingstexte benennen? Geht nicht. Ich habe ein frisches Päckchen Klebezettel genommen, um alles „Besondere“ zu markiert. Was recht nett aussah. Das Buch rundherum mit unzähligen „Das-ist-wichtig-Zetteln“ verziert. Ein Vorhaben, das ich wieder aufgegeben habe. Ganze Artikel abschreiben? Wenn ja: welche? Das ganze Buch? Ich rate zur Anschaffung des Buchs mit CD. Außerdem sollte man Ausschau nach einem Auftrittstermin halten. Man kann das einfach nicht beschreiben. Literatur findet nicht dort statt, wo am lautesten gelacht, sondern wo am lautesten gedacht wird (abgewandeltes Zitat). Denken, nachdenken. Buch und Vortrag haben nichts mit „Comedy“ zu tun. Wenn auch Komik dabei ist, die ich jedoch vielmehr als schwarze Komik bezeichnen möchte. Die sprachliche Kompetenz von René Sydow ist einfach exzellent. Sprachliche Kompetenz der Leser und/oder Zuhörer ist die Basis für ein Verstehen. Jede Pointe ist ausgefeilt, kein Wort zufällig. Subtil, zynisch, sarkastisch – das macht „Freude“! Denn wenn auch die Formulierungen überzogen sind, so ist doch alles bitterernst und wahrhaftig und schrecklich real.
„Deutsche Wortarbeit“ ist nichts zum Entspannen. Man darf kein Wort verpassen. Man muss jeder hinterlistigen Wendung nachspüren. Verstehen. Auch das Nichtausgesprochen, das Nichtgeschriebene hören und sehen. Wem das nicht zu viel ist, sollte sich die „Deutsche Wortarbeit“ zu Gemüte führen. Politisch, gesellschaftskritisch, Alltagsbeschreibend – ein Buch für Sehende und Denkende.
Buch & CD, Klappenbroschur, 148 S./69 min.
print ISBN: 978-3-943876-67-3
epub ISBN: 978-3-943876-38-3