Es gibt Bands, die Musik erschaffen und es gibt Bands, die uns mit ihren Veröffentlichungen an Erkenntnisprozessen teilhaben lassen. „Wardruna“ zählt auf jeden Fall zu letzterem. Das mittlerweile hauptsächlich aus dem Multiinstrumentalisten Einar Selvik und der stimmgewaltigen Lindy-Fay Hella bestehende Projekt, liefert nicht nur den passenden Soundtrack für Wanderungen und gedankenverlorene Abende Zuhause; sie bieten uns einen Einblick in Traditionen, Erkenntnisse und Weltanschauungen aus der nordischen Geschichte.
Nach dem drei Alben umfassenden Runaljod-Liederzyklus und dem minimalistischen Album „Skald“ folgt nun mit „Kvitravn“ das neueste Werk der Norweger. Richtete sich der Runaljod-Zyklus textlich eng an dem alten Futhark-Runenalphabet aus, so ist „Kvitravn“ inhaltlich breiter aufgestellt. Uns begegnen verschiedene Themen aus der nordischen Mythologie und den daraus erwachsenen Traditionen. Bereits der Albumtitel offenbart eines davon. „Kvitravn“ bedeutet weißer Rabe und greift den Glauben an heilige Tiere auf. Diese standen einst für Erneuerung und Weisheit. Neben dem genannten Titellied beschäftigen sich auch „Grá“ (Grau) und „Kvit Hjort“ (weißer Hirsch) mit diesen Seelentieren. Ein weiteres wiederkehrendes Thema ist die Auseinandersetzung mit Göttern. So beschreibt „Munin“ die Gedanken das Göttervaters Odin. Jener schickt täglich bei Sonnenaufgang seine beiden Raben Hugin (Gedanke) und Munin (Erinnerung) aus, damit sie ihm von den Geschehnissen auf der Welt berichten. Doch er machte sich stets Sorgen, dass einer von beiden nicht zurückkehren würde. In dem Lied philosophiert er, welcher Verlust der schlimmere wäre. In „Fylgjutal“ (Die Rede der Fylgja) wird der Glaube an Schutzgeister aufgegriffen. Eine Fylgja begleitet den Menschen durch sein Leben. Am Ende seiner Existenz kann er seine Fylgja sehen und tritt in den Dialog mit dieser. Und auch im letzten Lied des Albums, „Andvervarljod“ (Lied der Geistweber), tauchen Gestalten der nordischen Mythologie auf. Die Nornen weben zu Beginn eines Menschenlebens das Netz des Schicksals. Im Text werden sie aufgerufen, keine bösen Wendungen hinein zu weben und den Protagonisten des Liedes auf seinem Weg wohlgesonnen zu begleiten. Es geht aber auch um die Selbstbestimmung und die enge Verbindung des Menschen mit dem Wind. Dieses Thema taucht auch im vorherigen Lied „Vindavlarljod“ (Lied des Windgezüchteten) auf. Neben der Verbindung zum Wind geht es um Erkenntnisgewinn und darum, dass man sich als Teil von allem und somit in allem wiedererkennt. Es wird auch die Neun als heilige Zahl aufgeführt. Diese gibt dem Titel „Ni“ den Namen. Neun Tage und neun Nächte hing Odin am Baum Yggdrasil, um die Weisheit über die Runen zu erlangen. Neun Mütter gebaren den Gott Heimdall. Das Lied geht teils in rätselhaft klingenden Versen auf weitere Bedeutungen dieser Zahl ein. In „Skugge“ (Schatten) begegnet uns eine alte Tradition. Zum Erkenntnisgewinn war es üblich, sich des Nachts an bestimmte beseelte Orte aufzuhalten und dort zu sinnieren. In dem Lied trifft der Protagonist auf einen Schatten, dem er Fragen stellt. Doch der Schatten antwortet nicht. Am Ende des Stückes gelangt er dennoch aus sich heraus zur Erkenntnis. Um ein durch die Natur streifen geht es ebenfalls in dem Titel „Synkverv“ (Wendepunkt). Wir sollen einer beschwingten Harfenmelodie in die Tiefe eines Berges folgen, um dort einem Wendepunkt entgegen zu gehen. In der nordischen Tradition sind alle Dinge und Wesen auf der Welt beseelt. Alles trägt ein eigenes Lied in sich. Um die Jagd nach diesen Liedern und Worten der Dinge geht es in „Viseveiding“ (Liedjagd). Man kann den Text als eine Beschreibung nehmen, wie Einar Selvik die Themen für seine Alben findet und was seine Kompositionen beeinflusst.
Musikalisch ist das Album genauso vielfältig wie die Themengebiete, die es aufgreift. Vom atmosphärisch getragenen Lied („Skugge“) bis hin zum treibenden Stück („Viseveiding“) ist alles vertreten. In „Munin“ und „Grá“ dominieren eher minimalistische Instrumentierungen, welche teils an das Vorgängeralbum „Skald“ erinnern. Doch Wardrunas Stärke liegt auch in der großen Orchestrierung. Gerade das Lied „Andvervarljod“, welches das Album beschließt, ist ein breites Meisterwerk. Darin wird die Stammbesetzung Wardrunas von prominenten Gästen unterstützt. Es handelt sich dabei um die traditionellen Sängerinnen Kirsten Bråten Berg, Sigrid Berg, Unni Løvlid und Ingebjørg Lognvik Reinholdt. Das Zusammenspiel der Stimmen ist überwältigend und erschafft eine magisch anmutende Tiefe. Insgesamt wurde wieder mit traditionellen nordischen Instrumenten wie unter anderem der Taglharpa, Sotharpa, dem Bukkehorn, der Bronzelure oder auch Flöten und Trommeln ursprünglich klingende Musik erschaffen, der es jedoch nicht an Modernität mangelt. Weiteres dominantes Instrument sind die prägnanten Stimmen Einar Selviks und Lindy-Fay Hellas. Diese umfassen eine extreme Bandbreite. Mal melodiös, mal rezitativisch fordernd, mal beschwörend, mal keifend und fast schreiend. Manchmal treten sie alleine auf, manchmal in einem beeindruckenden Wechselspiel wie in „Grá“. Mit jedem Album lässt sich ein immer besseres Beherrschen dieser Instrumente feststellen.
Bei „Wardruna“ geht es also nicht darum, traditionelle Musik nachzuspielen, sondern eigene Kompositionen zu erschaffen und diese mit Texten zu versehen, die uns alte Erkenntnisse vermitteln und diese so aufarbeiten, dass sie in der heutigen Zeit Bestand haben können. Zur Arbeitsweise Wardrunas gehört eine wissenschaftliche Sichtung alter Quellen und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der nordischen Geschichte. „Kvitravn“ ist ein Album, das von der Allbeseeltheit der Dinge berichtet, das uns daran erinnert, dass wir Teil der Natur sind und nicht die Beherrschenden. Es fordert uns auf, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen und daraus zu lernen. Für einige Probleme unserer Zeit wurden bereits Lösungen gefunden, derer wir uns nur erinnern müssen. Doch „Kvitravn“ ist noch mehr. Es ist ein sehr persönliches Album. Einar Selvik lässt uns an seiner Weltsicht teilhaben. Bereits der Titel weißt darauf hin, nannte sich Selvik doch zu seiner Zeit als Schlagzeuger in diversen Black-Metal-Bands einst „Kvitrafn“, der weiße Rabe.
Es bleibt spannend, in welche Richtung sich das Projekt „Wardruna“ noch entwickeln und welche Themengebiete noch erforscht und musikalisch umgesetzt werden.