Live in Berlin: And One + Welle: Erdball + Melotron + Distain

And One
And One

17. November 2012

BERLIN, COLUMBIAHALLE

Als vor etwa einem Jahr, am 12.11.2011, And One in „alter“ Besetzung zum Konzert eingeladen hatten, war die Neugierde groß. Diesmal wusste ich zwar, was mich erwarten sollte, doch überraschte mich dann doch die Fülle bereits zu Beginn des kleinen Festivals. Voll, absolut voll! 18.45 Uhr sollte es losgehen. Und berlinuntypisch fing die erste Band dann auch pünktlich an. „Distain“ – eine nicht ganz unbekannte Band, die bereits seit 1992 auf der Bühne steht – forderte mit passenden Synthie-Pop-Klängen zum Kopfnicken und Beinwippen auf. Leider fast unbeachtet von der And-One-Fan-Gemeinde, die wohl nur auf den Auftritt der EINEN Band wartete und noch recht unkonzentriert war. Ein unbeschreiblicher Stimmenlärm brandete den Lautsprecheranlagen entgegen. Im Foyer der C-Halle war die Musik deutlicher und klarer zu hören, als vor der Bühne.

Melotron schafften es anschließend, etwas mehr Aufmerksamkeit der werten Anwesenden zu erregen. Ebenfalls Synthie-Pop – dem Motto des Abends entsprechend. Ein Querschnitt ihres fleißigen Schaffens seit 1995. Und so langsam kam Bewegung in die Menge. Wenn man die leichten rhythmischen Körperbewegungen massen-synchron vollführte, wurde es so etwas Ähnliches wie Tanzen. Aus der homogenen Setlist ragte der Titel „Menschenfresser“ von Rio Reiser heraus. Doch dieser Name schien den Umstehenden wenig zu sagen. Die Zeit geht über vieles hinweg. Aber der Text lebt, wird weiter getragen und hat heute mehr an Bedeutung gewonnen als je zuvor.

Kurzer Umbau. Große durchscheinende Paravants wurden aufgestellt. Für diejenigen, welche die Show von Welle:Erdball kennen, nichts Neues. Anfangs stand Keyboarder A.L.F. alleine am Bühnenrand, Sänger Honey und die Damen Plastique und Frl. Venus gaben – versteckt hinter den Paravants – ein Schattenspiel zum Kraftwerk-Song „Wir sind die Roboter“. Ein gewohnt theatralischer Auftritt. Und der Funke sprang auch gleich über. Minimal-Electro mit teils kräftigem Schlag – Stillstehen unmöglich. Daran sollte sich während des gesamten Auftritts auch nichts ändern – von den vielen Alben mal hier ein Stück, mal da ein Stück. Der Unterhaltungswert bei dieser Truppe ist enorm. Was nicht nur an den Damen liegt, die durch ihre Kleidung zwischen atemberaubend und frech auffielen. Der stoisch wirkende Gleichmut von A.L.F. und dazu Honey mit seiner typischen Haare-Werfen-Gestik. Silberkonfetti und Silberluftschlagen regnen auf die jubelnden Menschen nieder. Die außerordentlich beliebten Riesenluftballons wurden auch noch einige Songs später bespielt – große Kinder. Zu „Starfighter“ flogen die Papierflieger durch den Saal und zogen ihre Sturzbahnen von Mann zu Mann. Herrlich! Das Blechfass für Honeys Körperertüchtigung bei „Arbeit adelt“ war schon etwas verbeult, wurde trotzdem traktiert und gab genug Lärm her. Und dann sangen gestandene Kerle mit Bauch und echter Glatze ein eher romantisches Stück mit: „…träumen, schweben…“ „Mensch aus Glas“ und das Hohelied für den Commodore C64 durften nicht fehlen. Bei „Deine Augen“ sprangen im Publikum die Funken von kleinen Wunderkerzen über die Köpfe – was sehr gut zu den verklärten Gesichtern passte. Woran die wohl dabei gedacht haben mögen? Mit „Monoton und Minimal“ beendeten Welle:Erdball ihr Konzert. Übrigens: das Mitsingen war bei einigen Titeln besonders enthusiastisch, aber auch sonst gab es zu jedem Song einen Saal-Chor.

Beim zeitlich ausgedehnten Umbau für den Auftritt des Headliners konnte man sich erholen und zu neuen Kräften kommen. Doch zu lange wollten die Gäste, die mit zunehmender Zeit deutlich unruhiger wurden, nicht warten. Das schrille Pfeifen und Kreischen bescherte mir fast einen Tinnitus.
Endlich: Nebel, drei Mannen platzierten sich hinter ihren Arbeitsgeräten. Die „alte“ Mannschaft. Zentral ein großes Schlagzeug. Reserviert für Joke Jay. Als Hintergrund keine augenunfreundlichen Schockfarben, sondern auf schwarzen Grund riesenhafte Porträts der vier Musiker mit mattblauen Uniform-Hemden und beeindruckenden, militärisch wirkenden Mützen. Was das wohl zu bedeuten hat? Aber keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zermartern. Denn mit dem Auftritt von Steve Naghavi, der wie immer seine heldenhaften Posen zelebrierte und den aufbrandenden Beifall sichtlich genoss, war diese Frage nicht mehr von Belang. Vom ersten Ton an begleitete ein vielhundertstimmiger Chor jedes Wort. Jede Textzeile vorhanden, im richtigen Takt, in richtiger Betonung. Unglaublich, wie Menschen, die mehrheitlich weit jenseits der Dreißig (und auch der Vierzig) sind, sich so gelöst und freudig zum gemeinsamen Singen entschließen… wahrscheinlich singt man sonst höchstens unter der Dusche. Aber hier? Die Fischer-Chöre sind nichts dagegen. Eigentlich hätte Steve sich statt dem Singen auch dem Lesen einer Zeitung hingeben können – das Publikum hätte das Konzert alleine gepackt! Aber freundlicherweise durfte er mitsingen. Ob es nun die „Deutschmaschine“ ist oder der „Techno-Man“ oder beispielsweise der Mix „Wasted“ mit „Personal Jesus“ von Depeche Mode. Oder auch eher romantisches wie „Für“ mit dem dahin schmelzenden Textvers „Ich mal ein Kreuz für dich auf einem Himmel breit. Zu zweit ein Leben weit. Die Geraden treffen mich auf dem Kreuz der Ewigkeit. Zu zweit ein Leben weit.“ In meinem Blickfeld ein Kerl, so 1,90 Meter groß und sicher auch so breit – mit feuchten Augen. Und er sang, sang mit Inbrunst. And One sind schon eine mitreißende Band. Manche meiner Lieblingssongs kamen jedoch einfach nicht. Böse. Kann ein Konzert nicht ein paar Tage lang dauern? Aber „Steine sind Steine“ war dabei. Obligatorisch auch der „Pimmelmann“ – zur offensichtlichen Freude des anwesenden Mannsvolkes. Abschluss dann eine schräge „Klaus“-Adaption, bei der Steve fast nur das Publikum dirigierte.
Nein, hiermit ist noch nicht Berichtsschluss. Zwischendurch holte Steve seine Mitstreiter für Gesangseinlagen nach vorne. Mit dem üblichen Herumalbern. Einmal waren die Gäste (fast) ruhig: Steve mit einer sehr sanften Ballade und nur von Pianoklängen begleitet. Das kann er also auch. Ohne Herumhopsen.
Und jetzt noch das Verrückteste: nach einem Stück ist die Bühne plötzlich dunkel, die Band verschwunden. Ohne ein Wort. Keine Ankündigung. Zaghaft forderten einige Leute „Zugabe“. Im Verlauf der Wartezeit wurde es zunehmend fordernder und fast aggressiv. Dann strahlen plötzlich vier starke Stabtaschenlampe in die Gesichter der vor der Bühne Stehenden. Die Verblüffung hielt nicht lange an. Da standen die Vier. In blassblauen Uniformhemden, dunklen Mützen, die Stablampen in den Händen, Colt am Gürtel – auf den ersten flüchtigen Blick: Polizisten aus den USA! Ein wenig seltsam ist Steve ja schon. Oder wer auch immer solche Einfälle hat. Jedenfalls folgten noch einige Titel. Steve entledigte sich seines blauen Hemdes und zog ein schwarzes über. Darüber kam eine Kapuzenjacke, die er für 25 Euro anpries. Weitere Verkaufsangebote wurden gemacht. Nein, kein schlichter Hinweis auf den Merchandising-Stand. Der Berliner sagt dazu: „Mann, is det ne Blüte.“ Aber so ist er und so wird er gemocht. Etwas rätselhaft war die Umarm- und Küsschen-Nummer zwischen zwei Bandmitgliedern, bei der Steve eine Art Regie führte. Mir blieb der Sinn jedoch verborgen. Es sah albern aus. Und die beiden Protagonisten konnten sich vor Lachen auch nicht halten. Die Menge kreischte vor Vergnügen und ließ sich auf die homoerotische Persiflage ein. Der Frontmann ist für seine Albernheiten beliebt. Er sucht die Nähe zur „Masse“ und die Masse sucht seine Nähe.
Der letzte, bereits erwähnte Song: „Klaus“. Ein lautstarker Chor. Aber dann war die Spielzeit voll ausgereizt und die letzte Strophe fiel leider weg. Das Publikum war trotzdem mehr als zufrieden und fix und fertig.
Dass And One eine hervorragende Live-Band ist, stellten sie zum wiederholten Mal eindrucksvoll unter Beweis.
Solltest Du, werter Leser, die Möglichkeit haben, And One in Deiner Nähe zu sehen: Genieße die Show!

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