Nach seinem Debütroman „Schwarzer Frost“ war ich auf das zweite Werk von David Wonschewski gespannt. Schon das Buchcover zeigt Ähnlichkeiten: auf weißem Grund ein Nadelkissen mit Näh- und Stecknadeln in dezenten Grautönen. Aber diesmal handelt es sich um Kurzgeschichten. Ungewöhnliche Kurzgeschichten. Geschichten, die eigentlich nur einen Ausschnitt darstellen, sozusagen die Mitte einer Handlungsbeschreibung. Jeden Anfang und jedes Ende erzeugt der Leser in sich selbst, mit seinen eigenen Gedanken und Gefühlen. Obwohl auch jede dieser Geschichten (gibt es einen anderen Ausdruck für „Geschichten“… vielleicht Gedankenprotokolle?) ihren Ursprung in den Gefühlen des Autors haben.
Wie berichte ich über ein „Schreibwerk“, wenn das darin wesentlich Enthaltene in mir auf eine Art Echo trifft? Als kämen Gedanken zu Besuch und träfen auf Gleichgesinnte in einem Hinterstübchen. Und sicher geht das vielen anderen Lesern ebenso. Jeder Tag, jedes Erlebnis, jede Begegnung – bearbeitet, beeinflusst, verändert die Persönlichkeit. Kleine und große Fehler, angenehme und unangenehme Erlebnisse, und die Menschen… alles ritzt und ätzt, schneidet und kratzt unter der Oberfläche am ICH herum. Nichts geht verloren, nichts kann man vergessen. Was einmal geschehen, ist niemals mehr wegzudenken. „Unsere Narben (…) mögen verheilen. Doch verschwinden werden sie nie. Es liegt an uns, ihre Schönheit zu entdecken.“ Ja, Narben bleiben. Wenn man einem nahestehenden Menschen beim Sterben zusehen muss. Narben bleiben, wenn man betrügt oder betrogen wird. Wenn einem Gewalt angetan wird, bleiben die inneren Narben für immer. Für immer. Ich kann hadern mit Vergangenheiten. Ändern wird sich daran jedoch nichts. Ich kann Vergangenheiten annehmen. Ich bin so, bin so geworden. Weil ich genau DIESE Vergangenheiten in mir trage. Die Narben gehören mir. Gehören zu mir. Wer oder was wäre ich ohne sie? So lese ich den Titel dieses Buches „Geliebter Schmerz“. Die Schmerzen, die zu den Narben führten, muss ich sie lieben? Kann ich sie lieben? Wie definiert man Liebe? Ich mag sie, die Narben. Ich habe mich mit ihnen arrangiert. Wir sind sozusagen befreundet. Kann man so an diesen Titel herangehen? Ich kann.
Da war jetzt sehr viel ICH. Doch ein Buch, welches so starke unterschiedliche Emotionen in Worte fasst, soll den Leser doch emotional ansprechen. Es nennt sich ein Buch mit Kurzgeschichten. Doch das wäre eine zu schlichte, fast nichtssagende Beschreibung. Denn wir schauen in das Leben der Protagonisten. In ein kleines Stück Leben. Als würde der Wind einen Vorhang kurz verwehen und den Blick in das „Dahinter“ gewähren. Oder als würden wir in fremden Schubladen Tagebuchfragmente finden. In Worte gefasst mal auf mehr und mal auf weniger Seiten. Wir nehmen Situationen wahr, Gedankenmonologe. Betrachten Beziehungen, die unmöglich sind, weil die Personen zu einer echten Bindung unfähig sind. Düsteres Grübeln, depressives Kreisen um Möglichkeiten zwischen Realität und Wachtraum. Verlustängste bedingen ein Verharren in der Entscheidungsunfähigkeit. Vergangenheiten, in denen die Personen nicht nur „Gutes“ taten und schuldhaftes Gewissen das freie Fühlen behindern. Das tägliche Leben: Krankheit und das Sterben, Einsamkeit und Ängste, Schuld und Sühne. Erlittene Entsetzlichkeiten gebiert gezeichnete Menschen. Gibt es den perfekten Menschen der Glückseligkeit überhaupt?
Das klingt alles so düster? Das möchte man verdrängen? Warum? Warum möchten oder können sich viele Menschen nicht mit ihren kleinen Dämonen im Innern auseinandersetzen? David Wonschewski gibt hier viele „böse“, zynische Anstöße, die eigene Psyche einmal zu hinterfragen. Leser, lass Dich auf die Protagonisten ein und folge ihren verwirrten und verwirrenden Gefühlen und Gedanken. Und überdenke die angedeuteten Lösungen – sie sind nicht so absurd, wie einem der Selbstschutzmechanismus suggerieren will.
Die Fragmente sind aus unterschiedlichen Sichtweisen geschrieben. Was davon in der Ich-Form den Autor persönlich betrifft – auf jeden Fall die Abschiede von seinem totkranken Vater. Und da ist er: der Schmerz. Zulassen. „Geliebter Schmerz“.
Eine melancholische Menschenbetrachtung. Nicht mit jedem Charakter kann man sich identifizieren oder zumindest „anfreunden“. Aber Dank der trockenen und doch feinfühligen Darstellung kann man sich in das Leiden und Fühlen leicht hineinfinden.
Der Klappentext:
„Ein junger Mann entdeckt endlich das Leben, als sein geliebter Vater im Sterben liegt. Ein anderer hat die Chance, für einen einzigen Mord Millionär zu werden. Und dann ist da noch der unsichtbare Kioskbesitzer, der in der Vergangenheit wohnt und doch alles, vor allem sich selbst, längst verloren hat. David Wonschewski richtet in seinen Erzählungen einen Scheinwerfer auf die zuckende menschliche Psyche aufgespießt von der Nadel einer kalten, erfolgsorientierten Gesellschaft. Seine Protagonisten begegnen Krankheiten, verschmähter Liebe und Tod und drohen im Strudel ihrer verdrehten Emotionen unterzugehen bis sie erkennen, dass im Zulassen des Schmerzes ihre einzige Rettung liegt.
Ein Streifzug durch den Alltagsirrsinn einer herzlosen Gegenwart.
Ein Wonschewski ohne Tabus. Bissig, bitterböse, zynisch. Und zugleich zum Weinen schön.“
„…aufgespießt von der Nadel…“ – hier erschließt sich dann auch das Titelbild mit dem Nadelkissen.
Unbedingt lesen sollte man auch das sehr aufschlussreiche Interview mit dem Autor auf der Seite des Periplaneta Verlags.
„Geliebter Schmerz“ ist keine leichte Kost, dafür eine außergewöhnliche und anspruchsvolle Lektüre, die mehr als nur dieses ist.
Softcover 214 Seiten, 20,6 x 19,5 cm
ISBN: 978-3-943876-70-3