Vor wenigen Tagen ging der zweite Teil der Metanoia-Tour von „IAMX“ zu Ende. Wir haben die Gelegenheit genutzt, um Chris Corner – englischer Musiker, Produzent, Songschreiber, ehemaliges Gründungsmitglied der Band „Sneaker Pimps“ und seit 2004 unter dem Namen „IAMX“ auf Solopfaden unterwegs – einige Fragen u. a. zu den Themen Heimat, Bühne, Religion und Musikbusiness zu stellen.
Im vergangenen Jahr hatten wir das großartige Vergnügen, „IAMX“ in Berlin erleben zu dürfen. Ein intensives, faszinierendes und überaus energiegeladenes Konzert. Auf einen Bühnengraben wurde verzichtet (wie auch bei anderen Konzerten von „IAMX“). Vor der ersten Zugabe hast Du die Bühne für die Konzertbesucher frei gegeben. Wie wichtig ist Dir diese Nähe zu Deinen Hörern?
Es ist einfach wunderbar, die Fans zu erreichen, zu berühren. Es ist ein Flirt, um Kontakt aufzunehmen. Die Fans auf die Bühne zu holen, ist eine impulsive Eingebung, einfach eine spontane Sache. Besondere Shows wie diese ermutigen mich zu solchen Interaktionsformen. Und natürlich liebe ich es, berührt zu werden.
Kann man sagen, dass Dir ein Konzert in einem kleinen Club mehr gibt, als ein Auftritt auf einer großen Festivalbühne, bei dem der Abstand zu den Konzertbesuchern deutlich größer ist?
Große Shows auf großen Bühnen können auch ganz sehr toll sein, aber es gibt da immer eine gewisse Distanz und Sterilität. Dies geht gewöhnlich mit diesen großen Shows einher, wo selbst die Mitglieder der Band weit voneinander entfernt sind. Die Intimität kleinerer Konzerte hält für mich mehr bereit… Ich kann mich eher selbst bei Auftritten in kleineren Locations verlieren.
In einem Interview hast Du einmal gesagt, dass Du die Bühne als Ventil brauchst, um Deine hedonistische Seite auszuleben, wohingegen Du im Privaten ein umgänglicher Mensch bist. Du bist auf der Suche nach der Mitte zwischen Deinen zwei Persönlichkeiten. Hast Du dieses Gleichgewicht gefunden?
Das ist die ewig dauernde Aufgabe eines Künstlers. Und ich denke, dass die Kunst sich durch diesen Bruch auszeichnet: der Bruch, dass es keine Ausgeglichenheit, keinen Frieden gibt. Definitiv habe ich mit meiner multimedialen Persönlichkeit Freunde gefunden. Die Bühne ermöglicht mir die Erfüllung des einen Verlangens. Eine andere Sehnsucht erfülle ich mir als schüchterne Privatperson mit Zurückgezogenheit.
Deine Musik ist sehr persönlich. Du gibst viel von Dir und Deiner Gefühlswelt preis. Insbesondere bei Konzerten stellen wir uns dies nicht so einfach vor. Ist dies in gewisser Weise eine Art Kampf, sich wieder und wieder vor einem Publikum zu „entblößen“?
Ein Kampf? Nein, nicht auf der Bühne… das ist der sicherste und leichteste Ort, um sich zu exponieren. Daran habe ich mich bereits gewöhnt. Es ist ein sehr emotionales Projekt…
Es setzt gewissermaßen die negativen Aspekte des Lebens fort. Aber die Bühne bietet hier eine Erlösung. Dies zu haben, ist notwendig. Es ist aber auch Teil des Fluchs.
Du hast Deine „Heimat“ England verlassen, um nach Berlin zu ziehen. Mittlerweile lebst Du in Los Angeles. Bist Du in gewisser Weise rastlos? Wie definierst Du für Dich Heimat?
Ich habe mich schon immer wie ein Nomade gefühlt. Immer auf der Suche nach neuer Inspiration und neuer Geographie… nach einem neuen kulturellen Input. Gewissermaßen denke ich, dass ich rastlos bin, aber das stört mich nicht. Meine Heimat ist dort, wo an einem ruhigen guten Tag mit freundlichen Leuten irgendwo etwas Gutes entstehen kann. Da finde ich meine Heimat.
Wie denkst Du mittlerweile über Berlin? Was hat Dir gefallen, was hat Dich letztendlich vertrieben?
Ich merkte damals, dass ich die Stadt zur Genüge genossen hatte. Quasi bin ich aus ihr herausgewachsen. Berlin – damit verbinde ich auch eine ganze Menge negativer Assoziationen, insbesondere mit meiner psychischen Erkrankung. Mein Leben in Berlin war schon sehr isoliert. In Los Angeles habe ich Freunde. Um mich herum – und ich selbst habe sie auch gefunden – die amerikanische positive Einstellung. Ich genieße die Sonne und die Zeit mit meinem Hund.
Stichwort psychische Erkrankung: Du hast in der jüngeren Vergangenheit so manchen Kampf ausgefochten. Chronische Schlaflosigkeit, Depressionen, Angstzustände. Du musstest Konzerte absagen und hast „IAMX“ komplett auf Eis gelegt. Doch der Wille, kreativ zu sein, kam zurück. Wie sehr hat Dir die Musik letztendlich geholfen, aus diesem tiefen Loch herauszukommen?
Nein, die Musik hat mir nicht unbedingt geholfen. Wirklich geholfen haben dagegen die Therapie, harte Arbeit, Ruhe, emotionale Unterstützung von Freunden, Medikamente und mein Hund. All das hat mir da herausgeholfen. Musik hingegen fühlte sich wie ein Feind an. Wie eine emotionale Bedrohung. Die mich labil werden ließ, sobald ich sie produzierte. Ich hatte keine kreative Ader mehr – also musste ich warten. Das hat zwei Jahre gedauert, um aus diesem Loch herauszukommen.
Dein letztes Album „Metanoia“ wurde per Crowdfunding finanziert. Du hattest alle Freiheiten, musstest Dich an keine vertraglichen Fristen halten und konntest Deine kreativen Ideen umsetzen, ohne dass irgendwelche Manager Druck ausübten und Einfluss nahmen. Wie wichtig waren Dir diese Freiheiten?
Es war ultra-befriedigend für mich. Das hat meiner Karriere neuen Aufschwung gegeben. Ich habe die Furcht überwunden, unabhängig zu sein. Im gewissen Sinne beantwortet sich Eure Frage damit von selbst.
Im Lied „North Star“ findet man die folgenden beiden Textzeilen: „Who am I?“ und „North star, I need you to guide me home”. Ist die Suche nach Dir, nach dem X zentrales Thema Deines Lebens?
Sehr, sehr gute Frage. Ihr selbst habt die beste Antwort auf diese Frage schon vorab gegeben. Das hätte ich selbst nicht besser sagen können.
Was denkst Du über das Musikbusiness und wie wichtig ist für Dich der kommerzielle Erfolg?
Das alte Modell ist tot. Das unternehmerische, zigarrenqualmende, parasitische Geschäftsmodell ist so tot, wie es klingt. Nämlich tot! Jeder Künstler möchte NUR Kunst machen und sich nicht mit einem Vollzeitjob nebenbei herumärgern müssen. Es ist eine Gratwanderung zwischen dem finanziellen Überleben und der individuellen Kreativität.
Meine Vorstellung von Erfolg beinhaltet beides. Man muss eine echte Balance zwischen Beidem finden.
Mit Deiner Band „Sneaker Pimps“ wärst Du fast in der allmächtigen Musikindustrie zerrieben worden. Auch das gleichberechtigte Bandgefüge sagte Dir nicht so recht zu. 2001 hast Du Dich von diesem Druck befreit und wurdest mit „IAMX“ unabhängig. Wie denkst Du rückblickend über diese Zeit vor 2001? Wie ist es Dir überhaupt gelungen, eine erfolgreiche Karriere abzubrechen und neu anzufangen?
Nach all den Jahren der Zusammenarbeit in dieser Band war ich dann doch etwas frustriert. Ich wollte nach einer anderen, eher reineren Ausdrucksform suchen. Mein Interesse galt immer dem Erforschen von ganz individuellen Bezügen. Ich wollte mit den unterschiedlichsten elektronischen Klängen experimentieren. Ich fand wieder zu den Wurzeln… zu meinen Wurzeln. Das bedeutete, meine Auftritte selbst buchen. Das kommerzielle Musikbusiness beiseitelassen und eine neue musikalische Alternative formen.
Du hast Mathematik studiert. Wie viel Mathematik steckt in Deiner Musik?
Was ich an der Mathematik geliebt habe, war die reine Mathematik an sich… die abstrakte und kreative Seite der Mathematik – die Wissenschaft. Die technische Seite meiner elektronischen Musikproduktion spiegelt meine Liebe zur Wissenschaft im generellen wider.
Du bist Antitheist, nicht wahr? Findet in Deinem Leben trotzdem eine Art von Spiritualität abseits der Religionen statt? Und wie gehst Du mit offensiv religiösen Menschen um?
Religiöse Menschen meide ich, wenn es geht. Ich vermeide sie deswegen, weil Glaube per Definition unvernünftig ist und sehr oft in tiefenpsychologischen Dingen wurzelt. Oder aber im Fehlen jeglicher intellektueller Neugier. Religion bedeutet, Deinem Wissen Grenzen zu setzen. Es bedeutet, ein Sicherheitsnetz zu knüpfen, durch welches Du durchs Leben getragen wirst. Ein großer Papa im Himmel findet dann Erklärungen für den Mist, den du hier verzapfst. Wissenschaft, Vernunft, Atheismus bedeuten, die Welt so hinzunehmen, wie sie sich darstellt. Und der existenten Welt alles zu entnehmen, was sie an Furcht oder Schönheit bietet. Lebe den Augenblick.
Die weltpolitische Lage ist überaus angespannt. Krisenherde wohin man blickt. Die Zukunftsaussichten scheinen düster zu sein. Beeinflusst dies Deine künstlerische Arbeit?
Ja, natürlich. Je mehr ich weiß, je mehr ich sehe und die Welt beobachte, umso mehr erkenne ich, dass sich die Welt im Chaos befindet. Die drohende Apokalypse wird einhellig von den medialen Nachrichten und den Geschehnissen auf der Welt künstlich verstärkt.
Der einzelne Mensch, der Künstler, kann wenig ändern am System. Trotzdem muss/sollte man sich bemühen, in kleinen Schritten den „negativen“ Mächten entgegenzutreten. Wie ist Deine Meinung hierzu?
Wir tun, was wir können und manchmal tarnen wir es als Wohltätigkeit und Selbstlosigkeit. Aber am Ende gibt es nur unsägliches Chaos und Entropie in der Welt. Ich denke, dass ich Veränderungen nur in der kleinen Welt dieses kleinen nomadisierenden Stammes, die ich um mich herum erschaffe, erreichen kann.
Mit diesen gedankenvollen Worten endet dieses Interview, welches uns den nachdenklichen Chris Corner etwas näher gebracht hat. Danke für die offenen Worte, gewährten Einblicke und interessanten Antworten.
Die Fragen stellten: Edith Oxenbauer und Marcus Rietzsch
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