„Wunderschön, schockierend und bewegend!
Die Besucher der Katakomben von Paris wurden einst mit einer Hinweistafel begrüßt, dass sie hier DAS REICH DES TODES betreten. Vom Beginn der Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert entstanden aufwendig verzierte Beinhäuser, Grabstätten und Kapellen, in denen Gebeine als Dekor verwendet wurden. Für diese erste umfassende Darstellung aller bedeutenden Stätten, die mit menschlichen Gebeinen ausgestattet sind, bereiste Paul Koudounaris mehr als 70 historische Stätten in fast 20 Ländern Europas, Asiens und Latein- und Südamerikas. Er dokumentierte und fotografierte erstmals zahlreiche Orte, die der Öffentlichkeit normalerweise nicht zugänglich sind.
Paul Koudounaris wurde an der Universität von Kalifornien, Los Angeles, in Kunstgeschichte promoviert und hat zahlreiche Artikel über europäische Beinhäuser und Ossuarien für wissenschaftliche und populäre Magazine verfasst.“
So lautet ein kurzer Einführungstext des H. F. Ullmann-Verlags, der das vor einigen Jahren in englischer Sprache erschienen Buch nun mit deutschen Texten publiziert. Eigentlich wäre damit schon alles gesagt – wenn… ja wenn nicht dieses Buch vor mir läge. Groß, schwer, mit unwahrscheinlich vielen Fotografien, schwarz-weiß oder farbig. In unterschiedlichen Formaten. Ausführliche Texte zu den einzelnen Ossuarien beleuchten die Geschichte und Legenden. Illustrationen tragen zum Verständnis, zur bildlichen Vorstellung bei.
Sicherlich mag den Einen oder Anderen die Vorstellung von Beinhäusern verwirren oder gar gruseln. Aber statt Trauer gewährt das Buch Einblicke in eine heute kaum noch gebräuchliche Form der Begräbniskultur. In der Moderne gelangen die Gebeine in der Regel in Krematorien, wo sie dann endgültig zu Asche werden. Beinhäuser faszinieren heute durch ihre Schönheit, ihre Eleganz. Der morbide Charme lockt Wissbegierige und Schaulustige an. Vor Jahrhunderten ein Bestandteil religiöser Rituale sind den Betrachtern die Hintergründe oftmals unbekannt. Allerdings gibt es auch Beinhäuser, in denen Knochen und Schädel bestenfalls gestapelt sind oder gar zu einem großen Haufen wild aufgeschüttet.
Diese religiösen Geschichten aus 18 Ländern hat Paul Koudounaris aufgespürt, erforscht und aufgeschrieben. Unterschiedliche Kulturen, spannende Details. Menschen besuchten ihre Verstorbenen, um sie um Rat und Hilfe zu bitten. Regelmäßig wurde die Kleidung ersetzt. Das erscheint uns Mitteleuropäern heute seltsam. Sicher, es geht auch um „Momentum Mori“, die Erinnerung an den Tod, die eigene Sterblichkeit, aber vor allem trugen diese Kunststätten der Gebeine sakralen Charakter. Getragen vom Gedanken der Erlösung und der Auferstehung musste der Körper – zumindest die Gebeine – erhalten bleiben. Der Kult darum, dass die Seele untrennbar an den Körper gebunden ist, war in vergangenen Jahrhunderten sehr groß. Beinhäuser waren ein Bestandteil der Kirchen. Unabhängig davon, ob Schädel und Knochen in einer Krypta oder in einer eigens geschaffenen Kapelle aufbewahrt wurde. Ebenso gehörten die Friedhöfe zu den Kirchen. Bestimmte Reliquien versprachen, dass die dort Begrabenen bei der Erlösung und Auferstehung bevorzugt würden. Viele Menschen wollten deshalb ihre Angehörigen an diesen Orten bestatten – was für die Kirchen ein gutes Geschäft war. Friedhof heißt im Lateinischen „cimiterium“ – was wiederum bedeutet: „eine Kirche, in der Leichname bestattet sind“. Das Buch „Im Reich der Toten“ bringt unbeschreiblich viele Hintergründe und Details zur Kenntnis. Berichtet wird über die Veränderung der visuellen Kultur im frühen Mittelalter in deren Folge die Zurschaustellung von Gebeinen und Mumien wahrhaft blühte. Auch finden sich Hinweise die Menschen mit ihren traumatischen Erfahrungen nach den großen Pestepidemien und ihrer daraus wiederum resultierenden besonderen Hinwendung zur Kirche. Der schwunghafte Handel mit Heiligen und Märtyrern, die in prunkvoller Kleidung und mit Juwelen übersät Werbung für die Katholische Kirche während der Zeit der Gegen-Reformation machten wird ebenfalls aufgeführt. Der Papst segnete solche Gebeine „großzügig“. Die Prozessionen bei der Überführung dieser Gebeine in die Kirchen waren sehr opulent. Das Buch beinhaltet ferner Dokumente über Katakomben. Nischen konnten schon zu Lebzeiten gemietet und „ausprobiert“ werden. Um Beinhäuser kunstvoll zu gestalten, holte man sogar Knochen von Schlachtfeldern. In einigen Gegenden Europas war das Beschriften und Bemalen der Schädel üblich.
Es ist eine Fülle an Informationen und Dokumenten, gewissenhaft aufgeschriebener Fakten, historischer und religiöser Hintergründe. Unbeschreiblich, was sich hinter der schlichten Bezeichnung „Beinhaus“ alles verbirgt. Und die Bilder sind überwältigend. Der „moderne“ Mensch hat vielfach den Bezug zum Tod verloren. In Teilen Mittel- und Südamerikas zeigt sich ein anderes Bild. Der Tod gehört zum Leben und wird auch entsprechend „locker“ behandelt. Eine Information, die mit Zitaten aufgelockert wird: „Wir sterben nicht, weil wir müssen, wir sterben, weil es eine Gepflogenheit ist, an die sich unsere Gedanken vor gar nicht einmal allzu langer Zeit gewöhnt haben.“, sagt der belgische Philosoph Raoul Vaneigem. Man kann und darf über den Tod schmunzeln und lachen.
Mit Achtung und leisem Humor schreibt und beschreibt Paul Koudounaris die Kulturgeschichte der Beinhäuser und Ossuarien, Rituale, Details und skurrile Episoden rund um den Tod.
„Im Reich der Toten“ ist ein optisch begeisterndes und ungewöhnliches Werk, dessen sechs Kapitel jeglichen Wissensdurst befriedigen. Ein Anhang liefert zudem Informationen zur geografischen Lage, Zugänglichkeit und Öffnungszeiten. Absolut empfehlenswert.
224 Seiten, Format: 22,5 x 30,5 cm
290 Farbfotos und 131 Duoton-Abbildungen
Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3848007127