Vor einigen Monaten hielt ich das Buch „Im Reich der Toten“ in den Händen. Und mich begeisterten die Qualität, die Hochwertigkeit und die umfänglichen Informationen dieser Publikation. Nunmehr liegt das zweite Werk des Paul Koudounaris vor mir. Schon der Schutzumschlag ist beeindruckend. Und über 70 farbige Fotografien auf schwerem, schimmerndem Papier zeigen einen unvorstellbaren Prunk. Die Texte zeugen von einem enormen Aufwand an Recherchearbeit. Ein Sachbuch, ein Geschichtsbuch und auch ein Bilderbuch. Umwerfend schön, umwerfend interessant.
Paul Koudounaris, Doktor der Kunstgeschichte mit den Schwerpunkten Barock und die Kunst Nordeuropas, lebt in Los Angeles. Zahlreiche Veröffentlichungen in akademischen und populärwissenschaftlichen Zeitschriften behandelten bereits europäische Beinhäuser. Bei seinen Recherchen zu „Im Reich der Toten“ öffneten sich Türen und Archive, die sonst noch niemals der Öffentlichkeit zugänglich waren. Unter anderem gewann er hierbei auch Daten und Bilder über die „Katakombenheiligen“.
Der Text auf dem Schutzumschlag verrät: „1578 entdeckte man in Rom ein Labyrinth unterirdischer Begräbnisgänge, in denen sich die sterblichen Überreste Tausender Menschen mutmaßlich frühchristliche Märtyrer fanden. In der Folge barg man die Überreste dieser sogenannten Katakombenheiligen und brachte sie in katholische Kirchen und Klöster überwiegend in Süddeutschland, in der Schweiz und in Österreich, wo nach den Zerstörungen des 30-jährigen Krieges und im Zuge der Reformation dringender Bedarf an ‚neuen‘ Reliquien bestand. Dort wurden sie von geschickten Kunsthandwerkern und Künstlern wieder zusammengesetzt, mit Gold und Edelsteinen verziert und in prächtige Gewänder gekleidet. Anschließend stellte man sie in kunstvollen Schreinen aus, um der Gemeinde die spirituellen Schätze, die die Gläubigen im Jenseits erwarteten, stets vor Augen zu halten. Annähernd drei Jahrhunderte lang verehrte man die reich geschmückten ‚Heiligen Leiber‘ als Wundertäter und Beschützer der Gemeinde, bis die Zweifel hinsichtlich ihrer Authentizität schließlich die Oberhand gewannen. Dann schämte man sich ihrer und versteckte oder zerstörte sie. Der Autor und Fotograf Paul Koudounaris wirft mit diesem Buch ein strahlendes Schlaglicht auf die in Vergessenheit geraten Katakombenheiligen.“
Was sind „Katakombenheilige“? Vereinfacht gesagt: aufwändig verzierte und teilweise bekleidete Skelette. In der heutigen aufgeklärten Zeit bleibt es reine Geschmackssache, wie man zu dieser Art von Kunstwerken steht. Damals, zu Beginn der „Herstellung“ dieser Heiligen, lagen die Meinungen dazu absolut gegensätzlich auseinander. Die Protestanten kritisierten die unwürdige Zurschaustellung dieser Toten. Die Katholiken hingegen sahen darin so etwas wie ihr Seelenheil.
Wikipedia informiert: „Reformation (von reformatio ‚Wiederherstellung, Erneuerung) bezeichnet im engeren Sinn eine kirchliche Erneuerungsbewegung zwischen 1517 und 1648, die zur Spaltung des westlichen Christentums in verschiedene Konfessionen (katholisch, lutherisch, reformiert) führte. Die Reformation wurde in Deutschland überwiegend von Martin Luther, in der Schweiz von Huldrych Zwingli und Johannes Calvin angestoßen. Ihr Beginn wird allgemein auf 1517 datiert, als Martin Luther seine 95 Thesen auf die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg geschlagen haben soll, aber ihre Ursachen und Vorläufer reichen weiter zurück. Als Abschluss wird allgemein der Westfälische Frieden von 1648 betrachtet. Anfänglich war die Bewegung ein Versuch, die römisch-katholische Kirche zu reformieren. Viele Katholiken in West- und Mitteleuropa waren beunruhigt durch das, was sie als falsche Lehren und Missbrauch innerhalb der Kirche ansahen, besonders in Bezug auf die Ablassbriefe. Ein weiterer Kritikpunkt war die Käuflichkeit kirchlicher Ämter (Simonie), die den gesamten Klerus in den Verdacht der Korruption brachte. Die Reformbewegung spaltete sich aufgrund unterschiedlicher Lehren in verschiedene protestantische Kirchen auf. Die wichtigsten Konfessionen, die aus der Reformation hervorgingen, sind die Lutheraner und die Reformierten (darunter Calvinisten, Zwinglianer und Presbyterianer. Hinzu kommen die radikal-reformatorischen Täufer. In Ländern außerhalb Deutschlands verlief die Reformation zum Teil ganz anders. So entstand in England der Anglikanismus. In Ländern, die der römischen Kirche treu blieben, kamen manche Anliegen der Reformation in der Gegenreformation und der katholischen Reform zum Ausdruck.“
Die Reformation brachte die Katholische Kirche in Bedrängnis. In den deutschsprachigen Ländern breitete sich die neue bescheidenere Art des Glaubens schnell und flächendeckend aus. Wie bei jedem Umbruch kam es auch hier zu Gewalt und Zerstörung. Katholische Kirchen und Klöster wurden geplündert und Kunstwerke vernichtet. Gravierender waren jedoch die „Verluste“ an Menschen, die der Katholischen Kirche ihren „Zehnten“ erbrachten. Das zeichnete sich als finanzielles Desaster ab, dem Einhalt geboten werden musste. Die sogenannte Gegenreformation wurde mit allen Mitteln betrieben. Damals waren die meisten Menschen nicht nur „Wundern“ gegenüber sehr gutgläubig, sondern vor allem einer visuellen Pracht empfänglich. Irgendwie gilt das ja auch heute noch. Damals jedoch wurde den „Heiligen“ eine ungeheure Kraft und Wundertätigkeit zugeschrieben. Und so wurden die Katakombenheiligen geschaffen. Geschaffen? Ja. Denn auch im Vatikan lagerten keine Skelette von Heiligen zu Hunderten. So schuf man aus den in den Katakomben von Rom befindlichen Überresten von Christen, Heiden, Märtyrer und Strolche „Heilige Leiber“.
Obwohl die Bibel keine Grundlage für das Anbieten von Reliquien liefert, wurden dies doch als unverzichtbarer Bestandteil religiöser Praxis auf der letzten Sitzung des Konzils von Triest im Jahre 1563 bestätigt. Um den bekanntgewordenen Ungereimtheiten entgegenzuwirken, wurde ein „Regelwerk“ erarbeitet. Nach strikten Richtlinien sollten Reliquien authentifiziert werden und ein Echtheitszertifikat erhalten. Doch die Praxis sah anders aus. Infolge der Zerstörungen durch die Reformationsbewegung gab es einen enormen Bedarf an Ersatz für Reliquien. Identitäten wurden „geschaffen“, Heiligennamen glatt erfunden.
Im 18. Jahrhundert kommentierte ein anglikanischer Bischoff verächtlich, dass „die Knochen der römischen Sklaven, zumindest diejenigen der gemeineren Sorte, neuerdings in Silber und Gold gefasst werden, mit jede Menge anderem kostspieligen Zubehör, um den Aberglauben derer zu nähren, die sich gern täuschen lassen“.
Bemerkungen rund um die Katakombenheiligen:
Die Schädel wurden von Gläubigen geküsst. Alte Knochen. Manchmal mit Wachs überzogen, um lebendig zu wirken. Oder mit dünner Seide, Gaze bespannt. Auf jeden Fall sollte dies vor Krankheit und Not schützen.
Es entwickelt sich ein „Gewerbe“ der Knochenbeschaffung. Viele Reliquien waren mehr als zweifelhaften Ursprungs. Erwähnt werden sogar die Toten des 30-jährigen Krieges. Woher auch immer die Skelette stammten, eine fiktive Geschichte wurde mitgeliefert, um einen „Heiligen“ zu kreieren.
Der Transport der „Heiligen“ von Rom wurde zu einem lukrativen Geschäft für alle Beteiligten. Nicht nur Mönche übernahmen diese Inszenierung, auch Pilger und sogar Kaufleute. Bei Übernachtungen in Herbergen bekamen die Skelette ein eigenes Zimmer.
Die „Ankunft“ am Bestimmungsort wurde oftmals über mehrere Tage gefeiert. Manchmal wurde auch Jahre bis zur offiziellen Vorstellung gewartet, um diese mit besonderen religiösen Höhepunkten verbinden zu können. Um dem Spektakel den größten Zulauf zu sichern, wurde den Teilnehmern solcher Schauveranstaltungen Sündenerlass im großen Umfang versprochen.
Die Ausschmückungen wurden in Nonnenklöstern der Dominikanerinnen vorgenommen. Neben Gold, Edelsteinen, kostbaren Stoffen wurden aber auch Glasperlen und -steine verwendet.
Häufig befanden sich die Knochen in einem sehr brüchigen Zustand. So kam Knochenleim zum Einsatz. Fehlendes wurde großzügig ersetzt, Torsos aus Holz, nachgemachte Schädel. Die kleinen Hand- und Fingerknöchelchen wurden auf Stützgerüsten befestigt. Die Pose des geschmückten Skeletts (manchmal sogar in fürstlicher Kleidung oder Soldatenrüstung) wurde ebenfalls durch Gestelle fixiert: Jede lässige oder erhabene Haltung war Kalkül.
Heilige bekamen kleine prunkvolle Kammern, die oft in den Sockel des Altars eingefügt waren.
Katholische Gläubige wiesen diesem Kult eine extrem hohe Bedeutung zu. Öl, welches sich in einem Gefäß außerhalb neben einem Gelass mit einem Heiligen befand, soll Wunderheilungen vollbracht haben. Das Öl ließ sich sehr gut vermarkten. Die Heiligen wurden klassenübergreifend verehrt und trugen zur gesellschaftlichen Einigkeit bei. Der (angebliche) Name des Heiligen wurde in erheblichem Masse den Neugeborenen verliehen.
Den Heiligen kam noch eine besondere Aufgabe zuteil: Ohne Sakrament kommt niemand in den Himmel. Die Taufe war hierfür unerlässlich. Totgeborene oder vor der Taufe verstorbene Babys erlebten Dank der Heiligen ihre „Auferstehung“, wurden getauft, um anschließend ins Himmelreich aufzusteigen. Aus heutiger Sicht erscheint das bizarr und skurril. Bis Ende des 18. Jahrhunderts war dies aber für weite Teile der Bevölkerung das reale Leben.
All diese kleinen Einblicke geben nicht einmal ansatzweise das wieder, was Paul Koudounaris an wissenschaftlicher Arbeit geleistet hat und in dem Buch „Katakombenheilige“ zusammengestellt hat. Allerlei geschichtliche Details kann man lesen und studieren. Und man spürt die Begeisterung des Autors bei der akribischen Recherche. Ein Teil unserer Geschichte, deren Vernetzung zumindest mir in dem Ausmaß nicht bekannt war.
Unabhängig von allen Fakten und Daten sind die Bilder überwältigend, die Details überraschend. Perlenumrandete Augenhöhlen oder bunte Klunker darin. Rippenbögen mit zarter Goldborte umwunden. Auf einer Doppelseite ist ein Gewölbe zu sehen, deren Seiten mit kassettenartig angeordneten Knochen in den verschiedensten Mustern ausgefüllt sind. Eine bizarre Verspieltheit. Losgelöst von den dunklen Jahrhunderten schaut man heute mit Verwirrung auf diese monströsen Zurschaustellungen. Manchen mag es gruselig erscheinen. Doch spielt in vielen Religionen die Erhaltung des Körpers bzw. der Gebeine eine wichtige Rolle.
„Katakombenheilige“ ist ein opulentes Werk. Ungewöhnlich, wissenschaftlich, informativ und einfach wunderschön. Ein empfehlenswertes Buch zum Lesen, Schauen und vor allen Dingen: Wundern. Im Anhang gibt es übrigens ein Register der Reliquienstätten und der „Heiligen“, die teils der Öffentlichkeit zugänglich sind.
ISBN 987-3-942194-18-1