KAELTE – Aus tiefen Höhlen

KAELTE - Aus tiefen Höhlen

Die Leipziger Band KAELTE ist seit vielen Jahren musikalisch tätig und überzeugt stets mit einfühlsamen, zeitlosen Texten und eindringlicher Musik. Ihren Stil beschreiben sie selbst als Endzeitromantik. Und genau unter diesem Zeichen steht ihr neuestes Werk, welches den platonesken Titel „Aus tiefen Höhlen“ trägt.

Das Album startet mit dem Song „Rückkehr“. Ein passender Titel, da die letzte EP der Band bereits ein Jahr alt ist und das letzte richtige Album noch länger zurück liegt. Das Lied beginnt mit zarten Synthesizertönen. Dann setzen weitere Instrumente ein. Der Klangteppich wird unterbrochen, um einem markanten Bassgitarrenriff und Schlagzeug Raum zu geben. Die Akustikgitarre gesellt sich hinzu als der Text einsetzt. „Ich bin angekommen, in der Stadt der Wut. Ich bin angekommen, in der roten Glut“, intoniert Sven Martin bevor Franziska Martin in den markanten Refrain miteinstimmt. Auffällig ist, dass Franziska in einer höheren Stimmlage singt, als man es von ihr bei KAELTE gewohnt ist. Generell klingt das Lied, das Album, klingen KAELTE altvertraut und dennoch neu. Der Sound ist viellagiger, die Lieder dringlicher, die Texte noch aktueller und in ihren Bildern noch stärker. Es werden dunkle Szenarien gemalt, Lichtblicke heraufbeschworen. Svens vielfältige Stimme wird von Franziskas Stimme umschwoben, ergänzt. Doch erstmals hat Franziska auch eigene Gesangsparts, was sich sehr positiv auf das Klangbild auswirkt. Auch die Produktion ist sehr vielschichtig. Federführend zeigt sich Michael Tellbach dafür, welcher als Kopf hinter ART ABSCONs bekannt ist und neuerdings auch andere Bands wie Leger des Heils oder das vorliegende Werk von KAELTE mixt, mastert und vollendet. „Rückkehr“ ist somit eine Geschichte des Ankommens nach einer langen Reise. Das Innere kehrt ins Äußere, das Äußere ins Innere zurück. Sven offenbart sein Innerstes und eröffnet damit das Album.
Nach dem verhallten Ausklang sirenenhafter Stimmen knüpft das nächste Stück des Albums an: „Die Künstler der Hölle“. Dieses wird von einer E-Gitarre eingeleitet, bevor die Akustikgitarre und das Schlagzeug hinzukommen. „In der Hitze der Wüste hoffst du darauf, dass ein Sandkorn zerbricht. Was ist der Inhalt? Was ist der Kern? Ein Stein aus Gold oder ein steinerner Stern?“. Hier wird die Sinnsuche thematisiert. Wofür das alles und was verbirgt sich im Kern der Dinge? Nach der Frage folgt ein Synthesizersolo, so abgehackt und dennoch melodisch wie die Gedankenkette. „Was ist dein Weg? Was ist das Ziel? Zum Sterben zu wenig. Zum Leben zu viel.“, fragen Sven und Franziska, bevor ein E-Gitarrensolo beinahe verträumt ertönt.
Weiter geht es mit „Die Täuschung lächelt“. Ein im Midtempo angesiedeltes Lied, das mit einlullenden Melodien aufwartet, während der Text einen dazu auffordert, sich in weiches Gras zu legen und zu träumen. „Was wahr war ist nicht wahr wahr“ singt Sven und hinterfragt was Traum und was Realität sind bevor er mit Franziska den Willen zur Wahrheitsfindung anzweifelt. Es knüpft eine Kritik an die Sichtweise der Europäer auf das Weltgeschehen an. Was zu weit entfernt ist, scheint einen nicht zu betreffen. Doch wie weit weg muss etwas sein, um keinen Einfluss auf uns zu haben? Dringliche Fragen in einer von Krieg, Flucht, Hunger, Wassermangel, Inflation und vielen weiteren Themen geprägten Zeit. Das Gras wird Moor, das Herz zum Stein, der aufgewogen wird.
Kritisch geht es mit „Stöhnende Weisheit“ weiter. „Starrer Gehorsam der Menschen in deiner Welt. Geplünderte Höhlen, gedrucktes Geld. Undurchdringlicher Rauchnebel […]“ So wird ein finsteres scheinbar dystopisches Bild gemalt, das in den letzten Jahren jedoch Wirklichkeit wurde. Das Schlagwerk klingt militärisch, die Akustikgitarre monoton, die Stimme stark verhallt bis das Lied plötzlich aufbricht und sich stark öffnet. „Hunde liegen schlafend. Am Straßenrand der Rache.“, geht es weiter. Der Text wird persönlich, beschreibt die Angst und die Qual, die das Individuum durch die Geschehnisse empfindet. Musik und Text malen Bilder, befeuern das Kopfkino. Generell trifft dies auf das Album in Gesamtheit zu. Dadurch, dass viele Metaphern offengelassen werden, kann ein jeder/eine jede, daran anknüpfen und eigene Bilder und Interpretationen miteinbringen. Das macht dieses Werk so zeitverbunden und zugleich zeitlos.
„Gefährliche Stoßflut“ treibt die Lautmalerei an die Spitze. Dieses Lied sticht musikalisch und textlich stark hervor und weiß durch seine Intensität von der ersten bis zur letzten Sekunde besonders stark zu fesseln. Die Musik geht in Klangteppiche auf. Die Gitarre schwebt und die Stimmen schwimmen auf dem besungenen „grünen Wasser“. Man taucht förmlich in eine Absinthträumerei ein. Franziskas Stimme bildet den Sirenengesang dazu. Mit der Phrase „Ist es die Liebe zum Bild oder ist es Faschismus?“ reist es einen plötzlich aus dem Dämmer heraus. Und die Frage wird selbst durch ein überspitzt vorgetragenes „Interpretation, hoho ho ho“ beantwortet. Das Lied steigert sich mit den Bildern. Die schöne Gestalt wartet auf das Fressen. Den Höhepunkt des scheinbaren Traumes: „Dein Körper umringt von Propheten. Lasst uns hassen, lasst uns beten.“
Bei „An den Ufern“ werden die Themen von „Stöhnende Weisheit“ wieder aufgegriffen und neu betrachtet. Marschtrommeln, Glockenspiel, eine schleppende Akustikgitarre. Dazu ein mäandernder Bass. Der Text erinnert an die Flüchtlingsthematik, die Ausweglosigkeit der Menschen. Er wirft die Frage nach dem Sinn von Bürokratie und der starren Gesetzgebung im Angesicht von Extremsituationen auf. Und dann der Bruch: Es wird das Bild einer Person gezeichnet, die im scheinbar perfekten Sommer einer vollendeten Sonne entgegen geht. Ein weiser Schamane, ein Jim Morrison auf dem Weg durch die Wüste. Die Sehnsucht nach Erkenntnis und Weisheit. Und selbst die Musik erinnert klanglich an die düstere Seite von The Doors.
Es folgt der Titelsong des Albums. Dieser kommt im Uptempo daher. Lädt dazu ein, sich zu bewegen. Die Zeilen „Schädelscherben vor Ruinenplätzen. Unsere Zeit in der Sanduhr zerrinnt…“ steht im starken Kontrast zum Aufruf sich zu bewegen: „…Tanze den Tanz der Traurigkeit bevor sie zu spielen beginnt“. Dieses Lied wäre ein passender Song zu einer Grufti-Disco: Düster, eindringlich, melancholisch. „Tanze den Tanz der Lebendigkeit, sonst bist du bald tot“, heißt die weitere Aufforderung. Ein Lied über Trauer und Freude, Tod und Leben. Gefühle, die oft eng verwoben einhergehen. Und selbst die E-Gitarre windet sich in bester Goth-Rock-Manier durch das Lied. Ein Funken Hoffnung vor dem Niedergang.
Und schon kommt „Zerrissene Brust“ um einiges düsterer und barscher daher. Hartes Schlagwerk, sägende Gitarren, gebellte Befehle zum Gesang. Und über allem thront Klaus Kinskis Stimme, der ein Nietzsche Gedichte zum Besten gibt. „Zerrissene Brust“ reißt einen am stärksten in die aktuellen Geschehnisse zurück. Es zeichnet Bilder vom Krieg, der Flucht. Wie es ist, überlebt zu haben und nun in der Fremde zurechtzukommen. Mit all den inneren und äußeren Wunden. Musikalisch erinnert das Stück stark an Industrial, was sehr passend zum textlichen Inhalt ist.
Nach dem gerade mal drei Minuten langen Erzählstück folgt der Schlusssong des Albums: „Hoffnungstraum“. Klangteppich, Schlagwerk, Stimme. „Ich trage das Hemd der Einsamkeit“, intoniert Sven mit tiefer rauer Stimme. Es folgt die Schilderung des Niedergeschlagenseins. Die Hoffnung nur ein Traum, das Ende ist nun Gewissheit. „Mit blutendem Herz und traurigem Blick“ stehen wir am einsamen Baum und schauen zurück und auch ein wenig voraus. Ein Kampf zwischen Hoffnung und Resignation. Und immer wieder wird die markante Zeile „Mit blutendem Herz und traurigem Blick der Abschied am einsamen Baum“ von Sven und Franziska intoniert. Ein Mantra, dass sich bis in ein Rufen hineinsteigert und mit dem Lied in eine Wall of Sound aus Schlagwerk, Synthis, Gitarren und Stimmen ausbricht, bevor das Stück und damit das Album mit verhallenden Gitarren und Schlagwerk in Stille ausklingt.

Sven und Franziska Martin (KAELTE)

Insgesamt sticht „Aus tiefen Höhlen“ aus dem bisherigen Schaffen der Band heraus, ohne jedoch die typischen KAELTE-Momente auszusparen. Die Zutaten sind die gleichen, doch noch nie wurden sie so punktgenau und sich immer wieder steigernd eingesetzt. Hier hat alles seinen Raum: Svens markante Stimme, Franziskas hohe und tiefe Gesangsparts, die akustischen und elektrischen Gitarren, die Bassgitarre, die Drums, die Synthesizer- und Keyboardpassagen. Man hört es dem Album an, dass es Zeit zum Reifen hatte. Es klingt abwechslungsreich und dennoch wie aus einem Guss. Die Texte leiten die Hörenden von Song zu Song, nehmen an die Hand, lassen los, verwirren und enthüllen. Nirgends lauert der predigende Zeigefinger oder die eine Wahrheit. Fragen werden aufgeworfen, teils beantwortet und wieder aufgegriffen. Musikalisch werden Erinnerungen an (Dark)Wave-Bands wach. Ab und an schimmert der Industrial durch. Dann wieder kommt der Folk um die Ecke. Es entsteht eine ganz eigene Melange im Zeichen der Endzeitromantik.
Dieses Album erschien genau zur richtigen Zeit und wird noch lange Bestand haben. Sind doch die Themen, die Sven und Franziska darin aufgegriffen haben, zeitlos und die Musik jenseits aller Trends. Und das starke Mastering von Michael Tellbach in seinem Studio Absconditus trägt ebenfalls sehr dazu bei.

1 Rückkehr
2 Die Künstler der Hölle
3 Die Täuschung lächelt
4 Stöhnende Weisheit
5 Gefährliche Stoßflut
6 An den Ufern
7 Aus tiefen Höhlen
8 Zerrissene Brust
9 Hoffnungstraum
Gesamtspielzeit: 41 Minuten

Erschienen am 08.08.2023 als CD und Download unter kaeltemusik.bandcamp.com

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