In vergangenen Zeiten stellte der Dorfälteste eine wichtige Instanz im dörflichen Leben dar. Sein Erfahrungsschatz und seine in den Jahren gesammelte Weisheit befähigten ihn besonnen Entscheidungen zu treffen. Er wurde aber nicht nur bei wichtigen Entscheidungen zu Rate gezogen, sondern war auch ein angesehener Erzähler. Wenn er von den Jahren seines Lebens berichtete, lauschten ihm die Dorfangehörigen andächtig. Denn sie hörten die Geschichte ihrer Heimat, die Geschichten, Märchen und Gesänge von früher.
Tenhi, finnisch für „der alte Weise“ oder auch Schamane, ist der Name einer finnischen Band, die sich grob dem Genre des Folk zuordnen lässt. Sie wurde 1996 gegründet und veröffentlichte bisher fünf Studioalben und eine umfassende Werkschau mit Raritäten und bis dahin unveröffentlichtes Material. Doch diese Gruppe nur auf Musik zu beschränken, wäre eine einseitige Betrachtung. Tenhi ist viel mehr. Hinter diesem Namen agieren derzeit hauptsächlich Tyko Saarikko, Ilmari Issakainen, Tuukka Tolvanen, Paula Lehtomaki und Jaakko Hilppo. Allesamt Multiinstrumentalisten, Sänger und Künstler.
Bereits bei dem ersten Album „Kauan“, welches 1999 erschien und auf die MCDs „Kertomuksia“ und „Hallavedet“ folgte, erkennt man deutlich den künstlerischen Anspruch des Projektes. Jedes Lied ist eine Reise in die Natur, die Seele, zum Kern des Seins. Die Musik erklingt rau, urtümlich und vielfältig. Jedem Lied hört man Leidenschaft und Gefühl an. Es dominieren Akustikgitarren, Schlagzeug und eine Violine ist ebenfalls zu hören. Die Lieder sind mal andächtig ruhig, mal aufbrausend schnell. Das Album ist roh produziert, klingt aber nicht flach. Bereits bei der Entstehung wurde auf außergewöhnliche Aufnahmeorte zurückgegriffen. So nahm man zum Beispiel das Schlagzeug für das Lied „Etikäisyyksien Taa“ (über Entfernungen hinweg) in einer alten Fabrikhalle auf, um einen natürlichen Halleffekt zu erhalten. Die Texte greifen Themen und Motive der finnischen Folklore auf. Sie setzen sich aber auch mit menschlichen Gefühlsregungen wie Trauer und Melancholie auseinander. Diese werden häufig durch die Schilderung von Naturszenarien ausgedrückt. Ein wenig fühlt man sich an die Lyrik der Romantik erinnert, wenn das Nahen des Morgens im Lied „Huomen“ (Morgen) geschildert wird. Genauso wichtig wie die Musik ist das physische Erscheinungsbild. Das Cover ziert ein stimmungsvolles Foto, welches einen Nebel bedeckten See vor einem Waldrand zeigt. Das getragene Blau erweckt bereits die Atmosphäre, die das Album musikalisch aufbaut.
Auf „Kauan“ folgte im Jahr 2002 das Album „Väre“. Der auf dem Vorgängeralbum eingeschlagene Weg wurde fortgesetzt. Man hört den Musikern an, dass sie ihre Instrumente besser beherrschen lernten und sie über mehr Erfahrung mit dem Aufnehmen ihrer vielschichtigen Kompositionen verfügten. „Väre“ ist ein Winteralbum. Seine Musik spiegelt Weite, Endlosigkeit und kalte Fragilität wider. Bereits das Eröffnungslied „Vastakaiun“ (Echo) beginnt mit einer entrückten Flöte, wird dann von einem Piano herangezogen, bevor der beschwörende Gesang einsetzt und von den Wogen mit ihrer salzigen Gischt berichtet. Die Klanglandschaften sind dichter geworden, die Lieder klingen nicht mehr so rau, beinahe versöhnlich. Melancholie ist weiterhin ein fester Bestandteil der Gefühlsregungen. Das Cover wurde wieder von der Band selbst angefertigt. Es zeigt eine mit wenigen Pinselstrichen gezeichnete Winterlandschaft. Bei der limitierten Vinylauflage malte die Band die Hüllen per Hand. Ein Zeichen, wie wichtig die Symbiose aus Musik und Kunst für Tenhi ist.
Mit dem Nachfolger „Airut: Aamujen“, erschienen 2004, schlug die Band neue Wege ein. Dieses Album ist sehr pianolastig. In vielen Liedern ist dieses Instrument tonangebend und die einzige leitende Instanz. Das Leben der Künstler war im Aufruhr und die Aufnahmen für das eigentliche Nachfolgewerk „Maaäet“ stagnierten. Daraufhin nahm die Band altes Material zur Hand und arbeitete dieses weiter aus. So entstand „Airut: Aamujen“ in wenigen Sessions. Hierbei zeichnete sich schnell ab, dass das Piano das tragende Instrument werden sollte. Die Komposition und Aufnahmen gingen schnell von der Hand, der Bann war gebrochen. Doch die Musik fällt oftmals sehr treibend und nicht ruhig aus. Die Texte setzen sich mit Isolation, Sterben und Tod auseinander. Das erneut selbstgestaltete Cover zeigt das Gesicht einer liegenden Frau. Die Augen geschlossen, schlafend oder tot. Mit schwarzer Farbe wurde ein unregelmäßiger Bogen von der Schläfe ausgehend über das Frauengesicht hinausgezogen. Das Heraustreten der Seele, das Abdriften in den Schlaf, oder gar der Moment, wenn die Lebenskraft den Körper verlässt. „Airut: Aamujen“ endet mit dem sanften Lied „Läheltä“ (aus nächster Nähe), einer Männer- und einer Frauenstimme und dem nahenden Sommer.
Die Aufnahmen für „Maaäet“ dauerten länger an. Es erschien erst 2006. Es ist das erdigste Album der Band. Der Klang entführt in Wälder, weckt den Duft von Erde, Moos und Regen. Der Klang ist sehr warm. Die Melodien kommen ruhig, manchmal traurig, manchmal verträumt daher. Man wird immer tiefer ins Erdreich gezogen, ohne jedoch das wärmende Licht der Sonne aus den Augen zu verlieren. Die Akustikgitarren und der Bass sind präsenter. Das Schlagzeug treibt schonend voran. Es geht um Melancholie, Trauer, Träume, volkstümliche Motive und um den Sommer. All diese Gefühle, die einen umarmen und mit denen man zu leben lernen muss, damit man nicht unter der Last dieser Umarmung zusammenbricht. Es sind auch Lieder der Liebe enthalten, welche oft im vagen bleiben. Doch liegt nicht eh in der Andeutung die schönste Beschreibung von Liebe, da so der eigene Erfahrungsschatz die Lücken mit Bildern füllen kann? Das Cover ist, anders als bei den beiden weiß gehaltenen Vorgängeralben, dunkel. Es ziert eine abgestoßene Schlangenhaut. Symbol der Erneuerung und des Zurücklassens. Zu jedem Lied gibt es ein Kunstwerk, welches die Stimmung der Musik und die Worte des Textes widerspiegelt und ergänzt. Die Dichte der Musik setzt sich in der Gestaltung fort und ergibt so ein Gesamtkunstwerk. Die Farben sind erden und dunkel, beinahe beruhigend. Naturbeschreibungen sind sehr präsent und malen ein Bild des vergangenen Frühlings und Sommers und des präsenten Herbstes; überall lauern Verfall und Vergehen und die Verheißung auf neues Entstehen.
Bevor das vorerst letzte Album der Band im Jahr 2011 erschien, veröffentlichte Tenhi 2007 die Raritätensammlung und Werkschau „Folk Aesthetic 1996 – 2006“. Kein Titel könnte besser das Gesamtwerk dieser Band besser zusammenfassen. Auch hier bilden Musik, Text und Bild eine engverwobene Einheit. Enthalten sind alle MCDs der Band, das bisher unveröffentlichte Album „Kaski“ sowie bekannte Lieder in anderen Variationen und Arrangements.
„Saivo“ ist eines der Totenreiche in der Religion der Samen. Eine zentrale Rolle spielt der Fluss, das Wasser. Ein Dahintreiben. Nicht unbedingt nur in den Tod, sondern in sich selbst hinein. Dieses Album reifte beinahe drei Jahre. Man hört es ihm an. Es ist das detailreichste Werk Tenhis. Es beinhaltet wieder den erdigen Klang, ergänzt um einen weiten Hall. Und auch das schamanische Rezitieren kommt stark darin vor. Auch Chorgesang fand seinen Einfluss, um die Weite besser darstellen zu können. Das Artwork steht erneut im direkten Austausch mit der Musik. Die Klänge beeinflussen die Bilder und die Bilder beeinflussen die Musik. Beides ist eng verbunden und muss als Einheit betrachtet werden. Diesmal zeigt das Cover ein Boot, auf dem Ruderer mit nach oben genommenen Riemen über eine schwarze Fläche gleiten. Im Booklet sind die Zeichnungen auf schwarzem Grund im geisterhaften Blau gehalten. Erstmalig entstanden bewegte Bilder, welche einen Kurzfilm und kein klassisches Musikvideo bilden. Die Texte des Albums decken den bekannten Themenkomplex der Band ab. Es ist erstaunlich, dass selbst nach drei Alben neue Formulierungen, faszinierende Metaphern und immer wieder schöne Naturbilder gefunden werden, ohne sich zu wiederholen oder gar zu ermüden.
Die Künstler selbst sehen Tenhi als Reise durch verschiedene Landschaften und Gefühle. Musik wird als Landschaftsmalerei verstanden. Die Texte dienen nicht der Wiedergabe von Geschichten, sie deuten an und weisen auf. Auch wenn die Musik folkbasiert ist, so ist sie keine reine Folkmusik. Solch eine starre Genrezuordnung wird der musikalischen Breite Tenhis nicht gerecht. Es ist Musik, die meist mit akustischen Instrumenten gespielt wird. Der Folkanteil sorgt dafür, dass die Musik zeitlos klingt. Als wäre sie schon immer da. Dies gilt ebenso für die Naturbeschreibungen und -verweise in den Texten. Jedes Lied ist wie der Bericht eines alten Weisen, eines Schamanen, der seine Zuhörer an seinem Wissen und seinen Erfahrungen aus (Seelen)Wanderungen teilhaben lässt.
Momentan arbeitet die Band an einem neuen Album. Man sollte gespannt sein, wovon dieses zu berichten weiß.
Als Quellen dienten neben dem Hören der Musik und der Rezeption der Texte, die Linernotes der Alben sowie die Webseite der Künstler: utustudio.com