„Morbus Dei“ – Untertitel: Ketzereien am Rande des Universums – erscheint inzwischen in der 3. Auflage. Obwohl erstmalig bereits 2007 veröffentlicht, fiel es mir erstaunlicherweise erst jetzt in die Hände. Thomas Manegold ist in meiner „Privatbibliothek“ kein unbekannter Name. Und so war ich in neugieriger Erwartung: welche Seitenhiebe muss man sich als Bürger dieses Planeten gefallen lassen?
Lesegewohnheiten sind unterschiedlich. Ich lasse mir ungern „etwas sagen“. Also kein Klappentext, kein Durchblättern und Querlesen. Umschlagseite aufklappen und loslegen. Und so war das Erste, was ich in diesem Fall las, ein Zitat: „Gott ist eine literarische Erfindung“ (Marcel Reich-Ranicki). Oha, eine Auseinandersetzung mit Gott und seiner „Schöpfung“?
Ich finde Geschichten der Gegenwart, die um uns herum stattfinden. Eigentlich sind es Betrachtungen von Leuten, die sich in einem Chatroom (später als Weltenraum oder Prophetenraum bezeichnet) treffen und sich über Geschehnisse unterhalten. Laut Chatprotokoll sind der offenbar allmächtige Administrator, häufig Gott (überfordert), und andere Personen anwesend. Albert E. oder Michael E. beispielsweise. Wobei auch WAM in das Gespräch eintritt. WAM? Das Wolferl halt. Moses und der Prophet Baltasar. Kong Zi steht für Konfuzius. Und immer wieder schälen sich Bezüge zu Büchern, Filmen und Musik heraus.
Das klingt recht amüsant, nicht wahr? Als ich mir den ersten Absatz der Episode „Inthronisation 1.3“ zu Gemüte führte, hätte ich dies fast geglaubt. „Das Leben ist zu kompliziert. Die Gleichberechtigung ist ferner denn je. Frauen haben kurze Röcke an und nichts drunter, Männer seit 200 Jahren immer zwei Hosen übereinander, eine kurze, eine lange. Frauen laufen bauchfrei herum, Männer müssen ihre Bäuche einziehen. So weit ist es gekommen.“
Klingt durchaus humorvoll. Doch jeder Anflug eines Lächelns weicht bei den nächsten Sätzen einem sarkastischen Grinsen. Denn nun kommt eine Art Inhaltsangabe, was in den nächsten Episoden zur Sprache kommt. Und ohne alles aufzuzählen, die Spanne der Themen reicht von Steuerhinterziehung, über HIV und Dieter Bohlen, bis Lüge, Klerus und Sucht. Wobei es sich hierbei nur um einige Schlagworte aus einer Ansammlung menschlich-dämlicher Existenz-Beschreibungen handelt. Eigentlich bringt die Auswahl der Schlagworte gar nichts. Muss ich mich zu einem vollständigen Zitat durchringen? Denn erst dann wird die ganze Bandbreite erkennbar, was dieses Konglomerat, welches sich menschliche Gesellschaft nennt, anstellt. Und erklärt die nachfolgen Geschichten.
Ein bedenkenswerter Spruch: „Die Blöden und die Henker der Schlauen sind die Popstars, nicht die Denker.“
Also dann: es geht darum, nach Geboren- und Gestorbenwerdens in das nächste Level zu kommen. Und zwar ohne das, was wir heute haben oder auch hatten. „…ohne Mehrwertsteuer, Zahnersatz und Steuerhinterziehung, ohne Beamtenlaufbahn, ohne Wehrersatzamt und Lichtschutzfaktor 33, ohne H.I.V., Viagra, Leid und Elend, ohne Nebenbuhler, Überwachungskamera, Brainscan und Nötigung, ohne Mac Donalds, Massenschlachtung und elektrischen Stuhl, ohne Giftspritze, Ausbeutung und Unterdrückung, ohne Dummheit, Bier und Dieter Bohlen, ohne koksende Friedmänner, Überbevölkerung, Umweltverschmutzung, Scheidung und geschundene Kinder, ohne Vergewaltigung, Flugzeugabsturz, Atombombenabwurf, Ureinwohnervernichtung, ohne Heimatlosendeportation, Vergasung, Verleumdung, ohne Lüge, Scheiterhaufen, Klerus, Konsum, Sucht… ohne Silikontitten und ohne Schorsch Doppel U… und ohne Helmut K., Angela M. und Sigmar G.“
Ein schöner Traum. Denn all das Aufgezählte ist doch schlicht und ergreifend nur Mist. Was soll man daran noch lebenswert finden? Aber es macht unseren Alltag aus. Wie gehen wir damit um? Kopf in den Sand oder TV? Das Gehirn auf Stand-By-Modus schalten? Die Antwort muss jeder für sich selbst herausfinden. Kann ich diesen Mist abschaffen oder verbieten, negieren? Ich muss mich irgendwie mit dieser Realität auseinandersetzen. Und Thomas Manegold hat eine ganz eigene sarkastische – manchmal makabre – Art, sich der Realität zu stellen.
CHATPROTOKOLL VRG GENESIS 4.0 – ein Meinungsaustausch zwischen dem Admin und Gott über die Gründe, warum das mit der Menschheit nicht so gelaufen ist, wie Gott es sich gedacht hatte. Gibt es eine Lösung? „Gott: Was soll ich deiner Meinung nach tun? / Admin: Am besten, du klickst auf den Button links unten / Gott: Aber…“
Alles zurück auf Anfang? Wer Haare auf dem Kopf hat, kann sich dieselben raufen. Das ändert nichts. Auch wenn wir nur in unserer eigenen kleinen Welt etwas ändern können, zumindest nachdenken sollten wir über den Zustand der großen Welt.
Die einzelnen Geschichten lassen sich schlecht andeuten. Das ist der Wahnsinn – wie soll man das sonst nennen? – des realen Lebens. Fiktionen, die sogar humorvoll erscheinen. Doch der Stil, wie Manegold darüber schreibt, entlockt mir sowohl bitteres Grinsen als auch amüsiertes Kichern. Letzteres rufen die Chatprokolle hervor, bei deren Lektüre ich kaum aus dem Kichern herauskam. Ob es nun um nicht gelesene Gebrauchsanweisungen geht, Scheibenwelt und Mittelerde, Verkündigerding, Splatter-Zombie-Geschichte zu Ostern – das ist wirklich köstlich. Wie heißt es so schön: Mit ´nem Teelöffel Zucker schluckst du jede Medizin…
Gekonntes Schreiben, punktgenaue Akzente, hinterlistiges Umschreiben und Verklausulieren – der Leser wird zum Mitdenken angeregt. Das ist keine gedruckte Unterhaltung, das ist ein kräftiger Schlag auf den Hinterkopf. Denn so bequem es auch ist, über DIE Menschheit und über DIE Gesellschaft zu lamentieren, man ist ein Teil davon. Danke. Zu freundlich.
Der Klappentext:
„‚Wenn Gott wirklich allmächtig ist, wenn er wirklich allgegenwärtig ist, in Dir, in mir und um uns herum, dann muss es ihm verdammt schlecht gehen.‘
Mit dieser Erkenntnis beladen schlagen sich die Protagonisten durch ihre kleinen Episoden, in denen sich das Leiden der Welt und unsere Ängste vor der Unendlichkeit spiegeln.
Manegolds Geschichten haben etwas mit dem Alltagswahn gemeinsam: Sie haben Methode, sind verdammt nah dran und bewahren doch immer den Überblick. Alles scheint irgendwie verbunden, und sei es auch nur in seinem ganzen Elend, dem der Autor kein Mitleid entgegen bringen will. Schonungslos hält er drauf. Schließlich ist er ja nicht Gott. Aber wer ist das schon… Gott… und was weiß der wirklich. Er hat noch nicht mal die Bedienungsanleitung gelesen, sagt zumindest der Admin.“
„Morbus Dei“ ist alles andere als leichte Kost. Anspruchsvoll, ein schwieriger Film für den eigenen Kopf. Trotzdem muss ich mir keine Wunden lecken und in Depression verfallen. Das Leben ist wie es ist. Und wer weiß, vielleicht endet ja wirklich alles einmal in einem Lichtsturm und wir sind im nächsten Level.
Böse Kurzgeschichten über das Scheitern, Gott und die Welt.
Softcover, 146 Seiten, 19 × 13,5 cm
ISBN: 978-3-940767-01-1
Edition Periplaneta